Palmes Mörder können ruhig schlafen

Sieben Jahre nach dem Tod des schwedischen Ministerpräsidenten deuten neue Spuren auf Täter in der Polizei hin, doch die Ermittler weigern sich, die Hinweise zu verfolgen  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

28.Februar 1986, 23.21Uhr. Der schwedische Ministerpräsident Olof Palme wird niedergeschossen und stirbt an der Ecke Tunnelgatan-Sveavägen mitten in Stockholm. Er kommt von einem Kinobesuch und befindet sich mit seiner Ehefrau auf dem Nachhauseweg. Genau sieben Jahre danach sind die polizeilichen Ermittlungen kaum weiter als am Tage nach dem Mord. Als einzige Beweismittel hat die Polizei zwei Kugeln, die aus der Mordwaffe stammen sollen – doch nicht einmal das ist sicher. Selbst die Tatzeit ist unklar. Die Ungereimtheiten münden in der Frage: Gibt es eine andere Erklärung für die vielen „Zufälle“ und Versäumnisse, die alle im Bereich der Sicherheitsbehörden selbst enden, als eine Mittäterschaft aus Kreisen der Polizei selbst?

Die Fragen beginnen beim ersten Polizisten, der am Tatort ankam. Gösta Söderström soll nach den Unterlagen um 23.24Uhr am Tatort gewesen sein. Der vorausgehene Alarm wird auf 23.23Uhr datiert, zwei Minuten nach dem Mord. Doch der inzwischen pensionierte Söderström schwört Stein und Bein, daß er zwar eine Minute nach dem Alarm, aber erst um 23.30an der Ecke Tunnelgatan-Sveavägen war. „Die ganzen Ermittlungen gehen davon aus, daß um 23.23Uhr Alarm gegeben wurde“, sagt Söderström. „Aber ich hörte den Alarm erst um 23.29Uhr und war mit meinem Kollegen eine Minute später dort. Wir haben uns unmittelbar danach bei der Zentrale gemeldet. Dort ist das Gespräch unter der Uhrzeit 23.31Uhr aufgezeichnet worden. Es stimmt nicht, daß wir sechs, sieben Minuten früher dort waren und tatenlos gewartet haben, bevor wir uns meldeten. Warum auch?“

Die Unklarheit, wann wirklich Alarm ausgelöst wurde, besteht noch immer. Warum ist zwischen dem Notruf und der Auslösung des Alarms die Ewigkeit von sieben Minuten vergangen? Und warum wird in den offiziellen Protokollen an der nachweislich falschen Zeit festgehalten? Wirklich nur, um Schlamperei in der Polizeizentrale zu verdecken?

Gösta Söderström ist nur einer der vielen Kritiker der offiziellen Ermittlungsarbeit. Eine Schar von „privatspanarna“, PrivatermittlerInnen, wie sie in Schweden genannt werden, hat seither die Hinweise verfolgt, die alle in Richtung Polizei zeigen und eines gemeinsam haben: Die offizielle staatlich eingesetzte Palme-Kommission – erst weit über Hundert, jetzt noch 20 bis 25 der besten Polizeibeamten des Landes – interessiert sich nicht für sie.

Bericht an den Geheimdienst blieb unbeachtet

Eine der vorläufig letzten Spuren, die in Richtung Polizei zeigen und die zusammen mittlerweile zu einem Trampelpfad geworden sind, deckten vor kurzem die beiden Fernsehjournalisten Lars Borgnäs und Tomas Bresky auf. Seit längerem hatten sie im rechtsradikalen Sumpf recherchiert, der bis weit hinein in Polizeikreise reicht. „Es gab damals einen heute nur noch schwer nachzuvollziehenden, ausgeprägten persönlichen Haß gegen Palme und seine Ostpolitik“, sagt Lars Borgnäs. „Er wurde als ,Judenbolschewist‘ beschimpft, der angeblich die U-Boot-Alarme nicht ernst nahm und das Land einer sowjetischen Invasion auslieferte.“

Sechs Wochen vor dem Mord versammelte sich eine Gruppe von Polizisten in einem Zimmer des Polizeireviers von Norrköping, südlich von Stockholm. Sie sprachen darüber, was geschehen solle, wenn der Coup gegen den „Kommunisten und Verräter, der unser Land an die Sowjetunion verkaufen will“, gelungen sei. Einer der Teilnehmer, der als „hochgestellte Militärperson“ beschrieben wird, gab Einzelheiten jetzt an Lars Borgnäs und Tomas Bresky weiter, nachdem ein Bericht über das Treffen, den er kurze Zeit nach dem Mord für den staatlichen Geheimdienst Säpo verfaßt hatte, bis heute unbeachtet blieb.

Der Ermittlungsgruppe war dieser Bericht über das Treffen angeblich in den sechs Jahren seit der Tat nie zugänglich gemacht worden, sie reagierte deshalb auch erst nach der Veröffentlichung der Einzelheiten im Fernsehen. Der Zeuge des Treffens wurde verhört, seine Angaben als „uninteressant“ zu den Akten genommen. Unter derselben Rubrik liegt auch die Aussage eines Ivan von Birchan, der einige Wochen vor dem Treffen ebenfalls in Norrköping an die Säpo herangetreten war mit dem Hinweis, irgendeine Gruppe, möglicherweise auch der CIA, plane einen Mordanschlag auf Palme. Ihm selbst seien für die Tat zwei Millionen Dollar angeboten worden.

Die offiziellen Ermittlungen kümmerten sich um ganz andere Spuren. Spuren, die alle im Nichts endeten. Da war erst ein 33jähriger nach einigen Tagen als sicherer Täter erkannt und verhaftet, aber ebensoschnell wieder freigelassen worden. Da gab es die PKK-Spur, wonach kurdische ExtremistInnen hinter dem Mord stehen sollten und deren sture Verfolgung dem ersten Chefermittler Hans Holmer den Kopf kostete. Hans Ölvebro, sein Nachfolger, konnte mit der Variante des einsamen Täters ohne Motiv aufwarten: Der alkohol- und drogenkranke Christer Petterson, der von einer Instanz sogar für die Tat verurteilt worden war, wurde später mit einer schallenden Ohrfeige für die Vorinstanz freigesprochen. Weitere Spuren hat die Polizei nach den Worten von Hans Ölvebro nicht.

22 ZeugInnen haben in der Mordnacht unabhängig voneinander Personen mit Walkie-Talkies auf dem Heimweg des Ehepaares Palme beobachtet. Zwei Zeugen sahen einen ihnen bekannten Polizeibeamten, dessen Nähe zu rechtsextremen Kreisen bekannt war und der mittlerweile aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist. Nimmt man alle Zeugenaussagen zusammen, muß es in der Mordnacht um den Tatort herum von Polizei- und Geheimdienstbeamten gewimmelt haben.

„Die Tat konnte in dieser Nacht nur ausgeführt werden,“ so Lars Borgnäs, „wenn das Ehepaar Palme nach dem Kinobesuch nicht die U-Bahn nehmen würde, sondern sich für den Fußweg entschied. Eine Zufälligkeit, die ausgekundschaftet und dem eigentlichen Täter gemeldet werden mußte, der an der günstigsten Stelle für eine solche Tat auf dem Nachhauseweg wartete: an der relativ ruhigen Tunnelgatan mit einem idealen Fluchtweg. Mehrere steile Treppen und ein Wirrwarr kleiner Straßen.“

An weiteren Indizien, die nach rechtsaußen zeigen oder auffallende „Ungereimtheiten“ beinhalten, mangelt es nicht:

–Ein Zeuge wählt aus einer anonymen Fotosammlung vier Bilder von Personen aus, die er in der Mordnacht im Gebiet des Tatorts gesehen haben will. Es sind vier Polizisten, von denen bekannt ist, daß sie sich seit 1985 regelmäßig zu rechtsextremen Treffs zusammenfanden. Bei einem dieser Polizisten wird durch Zufall einige Monate später ein Schrank voll mit rechtsextremer Propaganda, eine SS- Uniform und verschiedene Walkie-Talkies gefunden.

–Die Tat geschieht vor einem Bürohaus, das – wie erst später bekannt wurde – jahrelang Treffpunkt des schwedischen Gladio- Ablegers, einer Verbindungsgruppe zu Nato und CIA war. In diesem Haus steht eine der sonst streng bewachten und verschlossenen Türen in der Mordnacht „zufällig“ offen, bis ein Wachmann dies kurz vor Mitternacht bemerkt. Auch zufällig.

–In ihrer ersten Aussage erwähnt die unmittelbarste Tatzeugin, Ehefrau Lisbeth Palme, zwei Täter. Sie beschreibt sie und gibt an, sie schon einige Tage vorher in der Nähe der Wohnung gesehen zu haben. Diese Aussagen werden später „berichtigt“ und tauchen nicht mehr in den offiziellen Protokollen auf.

–Ein Angehöriger einer belgischen rechtsextremistischen Gruppe gesteht im Verhör in Belgien etwas, wonach er gar nicht gefragt wurde: den Mord an Palme. Er widerruft später, wird als „Wichtigtuer“ abgetan. Der Führer dieser Mörderbande war zwei Tage nach dem Mord zufällig in Oslo gesehen worden.

–Zwei Tage vor dem Mord erhält der CIA-Mann Philip Guarino, Mitarbeiter des damaligen US-Vizepräsidenten George Bush, ein Telegramm von einem Freund, dem Führer der rechtsextremen italienischen Liga P2, Licio Gelli: „Erzähle unserem Freund, daß der schwedische Baum gefällt werden soll.“

Untersuchungskommission des Parlaments gefordert

Wie bei den Theorien um die Ermordung des US-Präsidenten JohnF. Kennedy ist es nur die Phantasie, die Grenzen setzt bei der Frage nach Tätern und Drahtziehern. Aber die gehäuften Hinweise in eine Richtung und die sture Weigerung der offiziellen Ermittler, in dieser Richtung aktiv zu werden, haben nun den Ruf nach einer neuen parlamentarischen Palme-Kommission laut werden lassen. Stimmen, die mittlerweile auch aus dem Reichstag selbst kommen, fordern eine Überprüfung der bisherigen Polizeiarbeit.

Der Sozialdemokrat Lars-Erik Lövdén, stellvertretender Vorsitzender im justizpolitischen Ausschuß des Reichstags, hat volles Vertrauen zur Polizei. Aber auch er will eine Überprüfung: „Das wachsende Mißtrauen in unser Rechtswesen, daß diese Unklarheiten ausgelöst haben, wird zum Problem. Das kann nicht alles so stehen bleiben.“