Noch herrscht die große Koalition der Unvernunft

Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (15. und letzte Folge)/ An der S-Bahn zeigen sich die verpaßten verkehrspolitischen Chancen/ Der kollabierte Verkehrskörper hängt an den Leitungen der Intensivstation  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Es ist an einem beliebigen, etwas trüben Februarmorgen, als du mit der S-Bahn nach Rahnsdorf fährst. Auf dem Weg zum S-Bahnhof Charlottenburg siehst du schon die vielen verpaßten Chancen Berliner Stadtplanung: die aufgehobenen Tempo-30-Zonen, die mißglückte Platzgestaltung am Stuttgarter Platz und die katakombenartigen S-Bahneingänge von hinten, die nun wirklich keinen recht einladen, in ein komfortables Nahverkehrssystem einzusteigen. Inzwischen verkehren die Züge wieder durchgehend zwischen Ost- und Westberlin, immer häufiger die farblich häßlichen alten Züge aus dem ehemaligen Ostberlin, die technisch aber auf demselben Stand sind wie unsere Westzüge. Ein historisches Verkehrssystem, das scheinbar vom Betreiber auf dem Stand vor dem Krieg gehalten wird: dieses gemütliche Tak-Tak der S-Bahn beim Fahren und diese etwas zu eng geratenen Sitze, so als ob der Besucher sie möglichst schnell wieder verlassen sollte.

Langsam zockelt die Bahn zum S-Bahnhof Savignyplatz, durchschneidet die Brandmauern, und die Erinnerungen an die zwanziger Jahre werden wach, Nostalgie kommt auf. Ben Wargins Plastiken holen dich ein wenig in die Gegenwart, und am Kantdreieck werden abweisende Betonmauern eines Neubaus hochgezogen, abgeschottet gegen diese Bahn, sie nicht integrierend, sondern ihr distanziert gegenüberstehend. Welche Chancen hätten sich da geboten, die vorbeifahrende S-Bahn in ein Neubaukonzept zu integrieren!

Der Bahn wird die Kehrseite gezeigt

Die Bahn wird immer noch behandelt wie die alte Dampfeisenbahn, man dreht ihr förmlich den Hintern zu. Dann der Bahnhof Zoo, der trotz der Renovierung immer noch wie das Provisorium wirkt, das er in Wirklichkeit immer gewesen ist. Lediglich der Zoo und der Tiergarten öffnen sich ein wenig hin zu diesem Verkehrsmittel. Und nach Bellevue dann der schöne Blick über den Tiergarten, die freie Fläche, die nun bald auch noch mit Regierungs- und Wohnbauten zugebaut wird – die der Bahn dann auch wieder ihre abweisende Fläche zukehren werden.

Dabei wäre diese Bahn so großartig in das Stadtsystem einzubeziehen. Wie majestätisch könnte man über diese Stadt hinweggleiten. Welche wunderbare Glasarchitektur könnte hier entstehen. Man fährt ja mit dieser Bahn fast mitten durch den Reichstag, das neue Parlament.

Man stelle sich vor, die Abgeordneten bekämen einen gläsernen Steig vom Lehrter Bahnhof oder vielleicht sogar von einem extra für sie einzurichtenden Haltepunkt, Reichstag genannt. Man würde sie morgens sehen, wie sie geschäftig als Volksvertreter in ihr Parlament eilen, grandios, zukunftsweisend hintransportiert mit modernen Wagen, meinethalben auch erster Klasse. Politiker, die einen aus Zehlendorf und die anderen irgendwie vom Wedding herkommend, je nachdem, welcher Partei sie angehören, etwas eilig aufgebrochen von zu Hause, in der S-Bahn gefrühstückt, die Zeitung gelesen, noch einen kurzen Telefonanruf getätigt und frisch hinein in die Ausschüsse und in das Parlament. Meinetwegen sollen sie sogar noch ein Extraabteil bekommen, damit sie vielleicht schon ihre ersten Fraktionssitzungen machen können, falls sie aus Potsdam oder der weiteren Umgebung Berlins im Lande Brandenburg kommen. Warum eigentlich nicht? Was wäre das für ein Verkehrsmittel!

Ein Verkehrsmittel, steckengeblieben in der Vergangenheit

Das Rumpeln holt einen in die Gegenwart zurück. Langsam laufen wir in den Lehrter Bahnhof ein. Ein Teil der alten Industriearchitektur Berlins taucht auf, die trübe Brühe des Humboldthafens, und die Charité wirft einen trotzigen Blick herüber, solange sie noch besteht und nicht von den Strukturplänen plattgemacht worden ist. Trotzdem, du bekommst bei einer solchen Fahrt immer neue Assoziationen.

Und dann natürlich die Einfahrt in die Friedrichstraße – sofort wird die Blechmauer wach in dir, du denkst unwillkürlich an den Tränenpalast, an die Spiegel in der alten Abfertigungshalle – das wirst du dein Leben lang nicht mehr vergessen, und das verknüpft sich im Grunde nur mit dieser S-Bahn, die nun langsam weiter durch Berlin zockelt.

Eigentlich ja eine schöne Fahrt, sie regt so zum zeitlichen Sinnieren an, aber ist das eigentlich der Sinn eines modernen Nahverkehrsmittels? Gut, sonntags, als Museumsfahrten, wären sowohl dieser Waggon als auch die Geschwindigkeit nicht schlecht. Aber jetzt mitten am Tage, so langsam, so besinnlich? – Du hast dir sowieso viel Zeit genommen, denn du weißt, es dauert. Und du machst dir natürlich klar, daß es mit der S-Bahn trotz allem schneller geht als mit dem Auto, aber es könnte doch wahrscheinlich viel schneller gehen, wenn es moderne Signaltechnik und moderne Waggons gäbe.

Ein proletarischer Charakter

An diesem Morgen ist die S-Bahn nicht voll, es gibt keinen Krach im Waggon, es sind nur noch fünf Mitreisende drin, du beginnst langsam zu träumen, und du merkst natürlich irgendwie: Die S-Bahn hat – ob man will oder nicht – einen proletarischen Charakter. Das liegt an ihrer Tradition. Sie wurde gebaut, um Arbeiter schnell, billig und in Massen in die vor den Toren der Stadt liegenden Fabriken zu bringen. Das war ihre ehemalige Aufgabe, und man merkt es ihr heute noch an. Der Geruch, das Ambiente, die Sitzausstattung, das Design, es atmet nicht diese Modernität. Das ist einerseits schön, und andererseits verleitet es die vielen Angestellten nicht zum Umsteigen. Der Angestellte, der nach Krakauer ja stilvoll mit Niveau sein will, wird sich hier niemals richtig wohlfühlen, und eigentlich ist der größte Teil dieser Stadt ja inzwischen von Angestellten bevölkert, viel mehr als noch in den zwanziger Jahren. Er wirkt hier irgendwie als Fremder. Er hat sich in den sechzig Jahren noch nicht richtig eingewöhnt, und deswegen nutzt er auch jede Gelegenheit, aus der S-Bahn wieder aus- und in die Kutsche einzusteigen, die Kutsche, die ihre logische Fortsetzung im Automobil gefunden hat.

Abstieg für Aufsteiger

Das Automobil war eine Kutsche mit Motorantrieb, die die herrschaftliche Individualität vermittelte – natürlich nur vortäuschte – und in die der Angestellte als Aufsteiger einsteigen konnte – ein Abstieg für Aufsteiger und für Umsteiger, die sich mühsam von ihrer proletarischen Vergangenheit verabschiedet haben und nun in der Kutsche oder dem, was sie dafür halten, ihr Prestige suchen und finden.

Massenhaftes Zurückbleiben

Das hat alles im Grunde – wie die gesamte Verkehrsplanung – kaum etwas mit Rationalität zu tun, es ist voller Emotionen. Du denkst wieder darüber nach, was du alles tun könntest und tun müßtest, um den einzelnen zu erklären, daß die S- Bahn das Zukunftsmittel der Zukunft ist, daß dieses Verkehrsmittel vernünftig ist, daß die Blechkisten schlecht sind, daß der Krause spinnt und der Haase keine Ahnung hat. Trotzdem werden die vielen Männer, die ihre vielfältigen Frustrationen, aber auch ihre vielfältigen Allmachtsträume in dieser Blechkiste wiederfinden, dies von sich abgleiten lassen. Sie bleiben zurück, aber in Massen.

Die S-Bahn fährt mitten durch das Museumsviertel. Auch diese Chance haben sie in Berlin nicht ergriffen. Wie interessant sind doch die Aufbrüche der U-Bahnen in Wien, Rom oder auch in Paris in die Archäologie der Stadt. Hier nicht, hier könnte man die Magazine der Museen leeren und sie neben der S-Bahn in gläsernen Passagen aufbauen. Welche Attraktion für ein Verkehrsmittel! Vorbei am Monbijoupark – auch hier wieder nichts aus der Chance gemacht –, am Hackeschen Markt zum Alexanderplatz. Hier hätte man ein grandioses Kaufhaus über die S- Bahn stülpen können, einen Glaspalast der Einkaufsfreuden – statt dessen dieser trostlose schwachsinnige Fernsehpimmel, der eigentlich mehr einer Autoantenne gleicht als eine Verbindung zur Kommunikation herstellt.

Zum Roten Rathaus gibt es auch keine Verbindung – hier müßte nun der Regierende Bürgermeister aussteigen und mit seinen Bürgern über einen gläsernen Steig eilen. Statt dessen unter mir die Tiefstraße, die unter der Karl- Marx-Straße die Verbindung zum alten Göring-Bau und zum Haus der Ministerien herstellt, damit die Parteifunktionäre möglichst schnell nach Pankow oder nach Wandlitz hinausfahren konnten. Das einzig Amüsante ist, daß man sich das heute von der S-Bahn aus besser ansehen kann: Das Panorama wird klarer und der Wahnsinn deutlicher. An der Jannowitzbrücke geht es wieder runter zur Spree – hier müßte ein Fußgängerweg sein, der den Spreewanderweg für den S-Bahnfahrer zu seinem sonntäglichen Spaziergang eröffnet. Statt dessen die übliche Tristesse, auch keine Bootsanlegestelle, wo das Verkehrsmittel S- Bahn mit dem Verkehrsmittel Schiff verbunden werden könnte, nichts dergleichen.

Verpaßte Chancen

Eine verpaßte Chance reiht sich an die andere. Auch zum Märkischen Museum mußt du dich mühsam hinwursteln, der Kunde und der Benutzer des öffentlichen Verkehrsmittels sind hier nicht Könige, sondern die Angeschmierten.

Nun geht es hinein in die Halle des Hauptbahnhofs. Auch dieser Name hält nichts von dem, was er verspricht. Die Halle – vergleichsweise mickrig, die Ausstattung sparsam, jede Werkshalle von Daimler Benz und VW bietet heute mehr Attraktivität. An der Warschauer Straße schaust du hinüber zur Oberbaumbrücke. Die Wiedervereinigung der Stadt ist nun schon drei Jahre her, und in diesen ganzen drei Jahren ist ein Wettbewerb zum Neubau der Oberbaumbrücke durchgeführt worden. Du kannst dir ausrechnen, daß du im Rentenalter frühestens einmal mit der Linie 1 – oder wie immer sie dann auch heißen mag – an dieser Stelle eine Verbindung haben wirst.

Damit diese Verbindung zwischen der Linie 1 und der S-Bahn auch nicht so intensiv genutzt wird, wird zusätzlich über die Oberbaumbrücke der Autoverkehr in der inneren Ringstraße Berlins geleitet. Ein weiterer Anreiz, die Kutschen zu benutzen und die S- Bahn rechts oder links liegen zu lassen. Es geht weiter zum Ostkreuz, und die Ausstattung und das Ambiente werden immer schäbiger. An dieser Stelle wird einmal in fernen Zeiten der Südring mehrere S-Bahnen miteinander verbinden können. Jetzt kommst du dir vor, als seiest du in einem Industrieviertel des mittleren Ural.

Je östlicher, desto schäbiger

Unwillkürlich denkst Du an Motzki, und gleichzeitig machst du dir die dann üblichen positiven Gedanken, es muß doch vorwärts gehen, es wird schon irgendwann etwas geschehen. Der Geruch wird nun immer penetranter und die heruntergekommenen Industrieviertel erinnern dich an das Ruhrgebiet der sechziger und sechziger Jahre, an die Fahrt zu dem Studienort von Düsseldorf nach Köln, vorbei an Bayer-Leverkusen, als qualmende Schornsteine noch Fortschritt symbolisierten.

Rummelsburg, Karlshorst, Wuhlheide, jetzt fängt man langsam wieder an zu träumen. Diese Birkenwälder, die an die S-Bahn heranrücken, die erinnern dich nun schon fast an die Fahrt mit der Eisenbahn von Berlin nach Moskau. Es geht durch die unendliche Birkensteppe Rußlands, der Samowar beginnt zu kochen, und der Schaffner wird dir gleich den Tee bringen. Aber so weit sind wir ja hier noch nicht.

Das Tak-Tak der S-Bahn wird wieder stärker, hier sind noch nicht die nahtlosen Schienen verlegt, und mit einem donnernden Ruck hält die Bahn, gebremst von Vorkriegsbremsen in Köpenick. Der Reichsbahnbeamte hat anscheinend die Uniform des Hauptmanns von Köpenick wieder aus dem Schrank geholt – es wirkt alles so herrlich verstaubt. Inzwischen hat er zwar ein Funkgerät in der Hand und fertigt damit die Bahn ab – Karl Valentin läßt grüßen in seiner berühmten Szene, als er aus dem Zug schaut und „Fertig“ ruft und der Abfertiger sich mit ihm streitet.

Diese Bahn braucht den Abfertiger

Man weiß genau, diese Bahn braucht den Abfertiger. Hier ist jede Modernität fehl am Platze. Hinter Köpenick könnte gleich das Museum für Verkehr und Technik liegen. Aber es geht weiter nach Hirschgarten und nach Friedrichshagen. In Friedrichshagen kommt endlich wieder eine Straßenbahn in Sicht, aber was für eine: das Allermodernste der dreißiger Jahre, auch schön nostalgisch. Der sieht man förmlich an, daß sie auf der großen Abschußliste steht, auch wenn die Gemeinde Schöneweide, der die Anlage gehört, für sie kämpfen wird.

Deine Fahrt endet in Rahnsdorf, einem Ort, der schon mitten im Grünen liegt, wo man buchstäblich im Wald steht, dort, wo unsere gesamte Verkehrsplanung inzwischen angelangt ist. Und du wunderst dich, daß du hier unseren Verkehrssenator nicht siehst, aber der kümmert sich ja, wie man kürzlich der „Berliner Abendschau“ entnehmen konnte, um die Pissoirs und scheint darüber seine Hauptaufgabe zu vergessen.

Die Fehler sind alle bekannt

Geschrieben ist im Grunde genug, wir wissen seit langem, was wir falsch machen, warum wir es falsch machen und wie wir es verändern können. Wir wissen nur noch nicht, wann es sich ändert, aber wir wissen genau, daß es schon längst nach zwölf ist. Es herrscht die große Koalition der Unvernunft, aber alle sagen, der Leidensdruck ist noch nicht groß genug. Aber die Zeit, wo wir freiwillig und auf demokratische Weise etwas ändern könnten, dürfte vorbei sein. Je länger aber noch gewartet wird, um so härter, tiefer, zwanghafter und verordneter werden die Einschnitte werden. Verkehrsplanung wird demnächst das Hantieren mit Notstandsverordnungen sein. Der Kollaps ist längst da, nur kein Sensorium, ihn zu spüren.

Wir sind wahrscheinlich in der Phase, als in Deutschland und in Teilen Europas der Faschismus schon die Macht übernommen hatte, aber jeder noch glaubte, die Systeme würden leicht mit diesen Systemunfällen fertig. Der Verkehrskörper ist längst kollabiert und hängt an den Versorgungsleitungen der Intensivstation: Das sind die Ampeln, die riesige Zahl an Vorschriften, die Masse an Verkehrspolizisten und der Moloch an Verwaltungen, den man braucht, um diese Hölle Verkehr noch erträglich erscheinen zu lassen.

Es ist wie mit dem Fieber: bis knapp unter die Grenze kann es zur Gesundung oder zum Tod beitragen. Zum Schluß hilft dann entweder nur noch gutes Zureden oder das Entsetzen des Beobachters. Trotzdem kann sich der Patient noch für relativ gesund halten und der Straßenverkehr von heute als Zombie des Systems gelten. Ein optimistischer Ausweg ist aus meiner Sicht dennoch denkbar: die Mehrheit der Bevölkerung ist heute wahrscheinlich wesentlich weiter als die Regierung und will die grundsätzliche Veränderung, aber die Regierung traut ihrem Volk nicht und will es nicht fragen. Sie ist fest entschlossen, die Macht, die ihr übertragen worden ist, nicht zu nutzen, sondern die Probleme konsequent auszusitzen. Also muß diese Mehrheit der Bevölkerung als Verbraucher die Macht, die sie hat, jetzt nutzen und konsequent handeln.

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.