■ Italiens politische Klasse: Wenn der Skandal die Seele frißt
: „Es ist die Moral der Diebe“

Rom (epd/taz) – Sergio Castellari lag auf einem Hügel vor den Toren Roms, um ihn herum sproß der erste Winterweizen. Zwei Tage lang hatten den 61jährigen mehr als 200 Polizisten mit Hubschraubern und Pferden gesucht, bis es für die Angehörigen in der vergangenen Woche zu trauriger Gewißheit wurde: Der ehemalige Generaldirektor des mittlerweile aufgelösten Ministeriums für Staatliche Beteiligungen hatte sich erschossen. „Ich ertrage die Schande nicht und scheide deshalb aus dem Leben“, schrieb er in seinem Abschiedsbrief.

Castellari sollte sich vor der Justiz für das Verschwinden von wichtigen Dokumenten aus dem Ministerium rechtfertigen, die Aufschluß über Bestechungsgelder geben könnten. Fassungslos reagierte der mit dem Fall beauftragte Untersuchungsrichter Orazio Savia auf die Nachricht von Castellaris Freitod: „Ich steige aus, ich kann nicht mehr.“

Der gigantische Schmiergeldskandal, in den Hunderte von Politikern und Unternehmern in ganz Italien verwickelt sind, löst nicht nur ein gesellschaftliches Erdbeben aus, sondern auch menschliche Krisen und Tragödien. Sergio Castellari ist bereits der siebte, der seit Juni letzten Jahres freiwillig aus dem Leben geschieden ist, um sich den Ermittlungen der Justiz nicht stellen zu müssen. Auch in den anderen sechs Fällen – fünf Kommunalpolitiker, ein Unternehmer – reichte die Ankündigung der Ermittlung bereits aus, um bei den Betroffenen Panik auszulösen.

Dabei ist diese Ankündigung, die mit dem Sozialisten Bettino Craxi und dem Republikaner Giorgio La Malfa bereits zwei Parteivorsitzende zum Rücktritt zwang, nicht etwa eine Anklage und schon gar keine Verurteilung. Doch in der italienischen Öffentlichkeit, die erschüttert den Niedergang ihrer „politischen Klasse“ registriert, werden solche feinen Unterschiede nicht mehr gemacht. Der Bescheid der Staatsanwaltschaft gilt als sicheres Indiz der Korruption, die nahezu alle Bereiche der Gesellschaft vom Gesundheitssystem über die Umwelt- und Entwicklungspolitik bis hin zum Fernsehen erreicht hat.

Der Mailänder Psychiater Vittorino Andreoli erklärte kürzlich, daß seine Praxis immer häufiger von Politikern und Geschäftsleuten besucht werde, die den Brief der Staatsanwaltschaft noch gar nicht bekommen hätten, ihn aber fürchteten wie die Pest. „Ihre Geschichten haben eine unter Politikern und Unternehmern dieses Landes weit verbreitete Doppelmoral gemein“, sagte Andreoli. Nach außen seien alle Erfolgsmenschen und vorbildliche Familienväter. Andererseits kassierten und bezahlten sie ganz selbstverständlich Schmiergelder. „Es ist die Moral der Diebe, eine Art Gewohnheitsrecht der Macht“, meinte der Psychiater. Seine Patienten hätten vor allem Angst vor der Schande, vor der Scham gegenüber Frau und Kindern.

Auch auf der anderen Seite zeigt der Skandal psychische Folgen. Antonio Di Pietro, der Staatsanwalt, der die Lawine vor einem Jahr ins Rollen brachte, beklagte sich kürzlich über ähnliche Streßerscheinungen: „Ich halte das nicht mehr aus. Bis zu 15 Männer am Tag wollen bei mir beichten, weil sie gezahlt oder kassiert haben. Ich kann nicht mehr.“