■ Leoluca Orlando, Symbolfigur des Kampfes gegen die Mafia, über Vetternwirtschaft in Sizilien und der Lombardei
: „Ein Kampf zwischen zwei Italien“

Fünf Jahre lang war Leoluca Orlando (siehe Portrait auf der nebenstehenden Seite) Bürgermeister von Palermo. Nach seinem erzwungenen Rücktritt kehrte der Christdemokrat vor zwei Jahren seiner Partei den Rücken und gründete „La Rete“ (das Netz), eine Organisation, deren Hauptanliegen der Kampf gegen Mafia und Korruption und für Transparenz der Politik ist. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr gewann „La Rete“ in Palermo 28 Prozent der Stimmen und wurde damit in der Hauptstadt Siziliens zur stärksten Partei. Im Durchschnitt brachte sie es auf der Insel auf 14 Prozent. Auch in einigen Städten Norditaliens schnitt „La Rete“ überraschend gut ab.

Das Gespräch mit Leoluca Orlando fand am vergangenen Mittwoch in Hamburg statt, wo sich der wohl am meisten gefährdete Politiker Italiens auf Einladung der Hochschule für bildende Künste aufhielt.

taz: Im letzten Jahr wurde Ihre Organisation „La Rete“ in Sizilien zur zweitstärksten Partei. Immer mehr Leute scheinen die Angst vor der Mafia zu verlieren. Nachdem schon in den 80er Jahren Hunderte „Ehrenmänner“ zum Teil zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, ging nun jüngst auch Totò Riina, der Boß der Bosse, der 23 Jahre lang abgetaucht war, der Polizei ins Netz. Läutet für die Mafia nun das Sterbensglöcklein?

Leoluca Orlando: Totò Riina war an der Spitze des bewaffneten Arms der Cosa Nostra. Er ist ein sehr wichtiger Stein im Mosaik, aber nicht das Mosaik selbst. Als man 1987 Michele Greco, den Vorgänger Totò Riinas, verhaftet hatte, haben ja auch viele geglaubt, nun sei die Cosa Nostra am Ende, und das hat man auch schon vorher, bei der Verhaftung Luciano Liggios, gedacht. Aber solange man nicht die Politiker und Geschäftsleute, die in die Mafia verstrickt sind, verhaftet, wird man die Cosa Nostra nicht endgültig besiegen.

Dann müßte man wohl auch den mehrmaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti festnehmen. Einige seiner sizilianischen Protegés sind ja selbst Mafiosi oder haben Mafiosi protegiert. Und konsequenterweise hat er ja auch Ihre Absetzung als Bürgermeister Palermos eingefädelt und durchgesetzt.

Andreotti ist der Garant eines bestimmten politisch-mafiosen Verhältnisses, das während des Kalten Krieges vorherrschend war — eine Periode, in der ja auch die Mafia in den Kampf zur Verteidigung Italiens vor dem Kommunismus eingespannt wurde. Nach dem Fall der Berliner Mauer müßte es nun möglich sein, die Beziehungen zwischen Mafia und Politik aufzubrechen. Während des Kalten Krieges gingen viele Politiker, die Mafiosi protegierten, straflos aus, weil man die Mafia für die Aufrechterhaltung von Freiheit und Demokratie für unabdingbar hielt. Nun gibt es dieses Alibi nicht mehr. Also ist es vielleicht nun zum erstenmal möglich, nicht nur Liggio, Greco und Riina vor Gericht zu bringen, sondern auch ihre Schutzherren. Die Beziehungen zwischen Andreotti und Vito Ciancimino, dem früheren Bürgermeister Palermos, einem gerichtsnotorischen Mafioso, sind allgemein bekannt. Und auch die Beziehungen zwischen Andreotti und Salvo Lima, einem Symbol für die Symbiose von Mafia und Politik. Im Oktober des vergangenen Jahres haben palermitanische Richter in ihren Akten ausdrücklich festgehalten, daß Mafiosi dank der Intervention des Europaparlamentariers Salvo Lima straffrei ausgingen. Der hatte sich offenbar an seinen Parteifürsten Andreotti gewandt, um die Richter zu einem Freispruch zu überreden. Ebenfalls bekannt ist das Verhältnis zwischen Andreotti und Michele Sindona. Andreotti hat Sindona öffentlich als „Retter der Lira“ bezeichnet. Sindona war ein Geschäftsmann, ein Bankier, in gewisser Weise der Financier der internationalen Cosa Nostra.

Während im Süden Italiens sich Erfolge im Kampf gegen die Mafia abzeichnen, erschüttert den Norden des Landes ein riesiger Korruptionsskandal. Gegen fast alle Minister der Region Lombardei wird wegen passiver Bestechung ermittelt, Unternehmer werden in Handschellen abgeführt, eine Reihe von Abgeordneten muß befürchten, die parlamentarische Immunität zu verlieren. Ist die politische Klasse Italiens zur Selbsterneuerung noch fähig?

Es findet heute ein harter Kampf zwischen Legalität und Illegalität statt. Auf der Seite der Illegalität hält etwas die Mafia im Süden und die Korruption im Norden zusammen. Aber es ist nicht so, daß der korrupte sozialistische Politiker in Mailand Beziehungen zum christdemokratischen Mafioso in Palermo unterhielte. Doch beide sind so mächtig und sind bislang straffrei ausgegangen, weil sie von derselben politischen Klasse protegiert wurden. Die Parteien schaffen es jetzt nicht mehr, sich aus sich selbst heraus zu erneuern. Sie brauchen nun eine Schockbehandlung, die sie zwingt, sich zu verändern. Deshalb sind wir für sofortige Neuwahlen. Wenn sich die Parteien dann nicht ändern, werden die Wähler sie eben ändern.

Neuwahlen kämen natürlich „La Rete“ sehr gelegen. Die traditionellen Parteien sind abgehalftert, viele Italiener würden ihre Stimme aus Protest Ihrer Bewegung geben...

Je mehr Zeit verstreicht, desto größer wird die Zustimmung zu unserer Bewegung und desto weniger Zustimmung werden die traditionellen Parteien finden. Wenn wir morgen wählen würden, so würden wir unsere Stimmen verdreifachen, wählen wir erst in einem Jahr, werden sich unsere Stimmen verzehnfachen. Wir wollen nicht eine Palme in einer Wüste sein, wir wollen einen neuen Wald.

Von der Krise der Parteien profitiert im Norden ja die „Lega Nord“, eine Protestpartei, die wie „La Rete“ vor allem die Korruption bekämpfen will. Bei den Kommunalwahlen vom Dezember 1992 ist die „Lega“ in fast allen Städten der Lombardei zur stärksten Partei geworden. Können Sie sich eine Allianz zwischen „Lega“ und „La Rete“ vorstellen?

Um zu zerstören, ja. Um zu regieren, nein. Wir haben ein gemeinsames Ziel: die Zerstörung der Herrschaft der Korruption. Aber wir haben unterschiedliche Werte: Die „Lega“ will Italien aufspalten. Sie gründet auf Egoismus. Die „Rete“ hingegen will Italien mit Europa vereinen. Sie gründet auf Solidarität. Die „Lega“ ist eine sehr starke, aber regionalistische Partei, die es fast ausschließlich in der Lombardei und in Venetien gibt. Umberto Bossi, der Führer der „Lega“, hat zwar in Mailand, Rom und in Sizilien kandidiert. Doch nur in Mailand wurde er gewählt. Ich habe in Venetien, Rom und Sizilien kandidiert, und ich wurde in Venetien, Rom und Sizilien gewählt. Wir sind eine nationale Bewegung.

Sehen Sie die Gefahr, daß Italien zerfällt, daß sich der Norden abspaltet, daß das Lebenswerk Garibaldis und Mazzinis in die Brüche geht.

Es gibt Leute, die Italien aufteilen möchten. Wir sind strikt dagegen. Der Separatismus ist das Fundament der organisierten Kriminalität. Der Mafia käme es zupaß, wenn sich Italien aufspaltet. Sie setzt sich ins Flugzeug und überwindet alle Grenzen. Wir haben schon eine kriminelle europäische Union, wir müssen jetzt eine antikriminelle europäische Union aufbauen. Die wirkliche Gefahr aber ist nicht die Aufspaltung des Landes in neue Staaten, sondern sie geht von der bereits vorhandenen Aufspaltung in ein legales und in ein illegales Italien aus.

Apropos Legalität und Illegalität: Die Krise der Parteien und die Korruption der Politiker haben bewirkt, daß die Italiener nun offenbar eine grenzenlose Hoffnung in die Justiz haben, die ja Politiker vor ihre Schranken zitiert und die ganze Fäulnis des Filzes zwischen Politik und Geschäftswelt offenlegt. Sehen Sie in dieser Hoffnung auf die Justiz, auf die Dritte Gewalt angesichts der Korrosion der Ersten und Zweiten Gewalt auch eine Gefahr?

Diese Hoffnung ist verständlich. Aber die Justiz kann nicht die einzige Kraft der Veränderung sein. Das wäre der Tod der Politik. Trotzdem: Wenn heute Craxi oder Forlani (die Ex-Vorsitzenden der Sozialistischen und der Christdemokratischen Partei) auf die Straße gehen, werden sie von den Leuten ausgepfiffen. Die Richter ermitteln gegen die beiden. Im Parlament aber bringt man ihnen großen Respekt entgegen. Die Regierung Amato ist auf das Vertrauen von 60 Parlamentariern angewiesen, gegen die wegen Mord, Massaker, Raub, Wucher und Korruption ermittelt wird.

Bietet diese triste Realität nicht auch den Nährboden für einen gefährlichen Populismus, auf den nicht nur die „Lega“, sondern auch die „Rete“ setzt?

In allen historischen Momenten, in denen es um eine große Veränderung geht, werden die Revolutionäre Populisten genannt. Welches Mittel gibt es gegen den Populismus? Man muß dafür sorgen, daß die Revolution möglichst schnell über die Bühne geht. Wenn eine Revolution kurz ist, kommt es nicht zum Populismus, wenn sie sich ewig hinzieht, wird diese Gefahr groß. Interview: Thomas Schmid