Hoechst unbekannte Gifte

Toxikologen rätseln/ Hoechst-Sprecher: Wenn die chemische Industrie nur produzieren dürfte, was sie kennt, müßte sie dichtmachen  ■ Von Niklaus Hablützel

Berlin (taz) – Die Werksfeuerwehr versucht seit gestern mit Stahlkugeln die verdreckten Schwanheimer Straßen abzuschleifen. Auch die Chemiker müssen nachsitzen. Die Analyse- Abteilung der Hoechst AG – eine der besten in Deutschland, lobt ein Firmensprecher – konnte noch am Sonntag mittag nicht sagen, welche Stoffe bei dem Unfall in Griesheim entstanden.

„Wenn die nicht wissen, wonach sie eigentlich suchen sollen, dauert es eben länger“, lautet die Rechtfertigung. Besonders peinlich: Gerade die Hoechst AG müßte sich von Amts wegen besonders gut mit der Chemikalie auskennen, die seit sechs Tagen einen ganzen Frankfurter Stadteil mit einer klebrigen Schmiere zudeckt. „Ortho-Nitroanisol“ gehört zu jenen über 10.000 Stoffen, die seit Anfang der 80er Jahre von einer Untersuchungskommission auf mögliche Umweltgefahren hin überprüft werden. Das aus Regierungs- und Chemievertretern zusammengesetzte Gremium hat die Aufgabe, alle wichtigen Chemikalien zu untersuchen, die schon vor Inkrafttreten des heute geltenden Chemiekaliengesetzes im Verkehr waren.

Bis heute sind erst ein paar hundert Problemfälle bearbeitet. Endgültige Ergebnisse liegen kaum vor. Bei Ortho-Nitroansiol inbesondere sind seit 1987 etliche Fraggen offen, wie pikanterweise einem Bericht der Hoechst-AG zu entnehmen ist. Der Chemiekonzern, der in Deutschland seit Jahrzehnten den größten Anteil des ziemlich simpel herzustellenden Farben-Vorprodukts liefert, hatte in der Untersuchungskommission die Federführung für diesen Fall übernommen. Im Auftrag der Hoechst AG hatten nun zwar Experten weitere Untersuchungen angemahnt, etwa zu der Frage, ob der bewährte Stoff auch Genschäden verursachen könnte. Aber die Produktion lief weiter – wenn alles neu geprüft würde, bevor weiter produziert wird, „müßten wir die ganze chemische Industrie stillegen“, sagt heute die Pressestelle.

Nun wird sich doch einiges ändern müssen. Das hessische Umweltministerium hat „organisatorische Vorkehrungen“ angeordnet und verlangt langfristig, alle vergleichbaren Anlagen mit geschlossenen Sicherheits- und Stoffkreisläufen auszurüsten. Denn der Unfall von Griesheim hätte leicht zur tödlichen Katastrophe werden können. Ausgangsstoff der Produktion ist die hochgiftige Verbindung Ortho-Chlornitrobenzol. Als die Betriebsmannschaft das überhitzte Gemisch über das Sicherheitsventil an die Luft beförderte, war der chemische Prozeß bereits so weit fortgeschritten, daß nur noch ein Prozent der Chlorverbindung im Mischkessel vorhanden war. „Wir hatten schlicht Glück“, gibt der Firmensprecher zu, nur eine verhältnismäßig kleine Menge des harten Giftes entwich in die Umwelt.

Daß der Rest „minder giftig“ sei, wie zuerst versichert, wagt schon gar niemand mehr zu behaupten. Denn die viel zu hohe Reaktionstemperatur ließ Verbindungen entstehen, von denen die meisten noch nicht einmal bekannt sind. Im hessischen Umweltministerium saßen gestern Abend Toxikologen zusammen, um wenigstens die bisher vorliegenden Daten auszuwerten. Das schwer wasserlösliche O-Nitroanisol kann vor allem über die Haut und die Atemwege in den Körper gelangen.