„Ich bin der Kandidat für 1993“

■ Michel Rocard – vom Hoffnungsträger der Linken im Pariser Mai 68 zum rechten Kritiker Mitterrands

Zweiundzwanzig Jahre nach der Gründung der Sozialistischen Partei ist Michel Rocard drauf und dran, seine Rolle als „ewiger Zweiter“ aufzugeben. Der Intellektuelle mit dem verschmitzten Lächeln und der scharfen Ironie will nicht nur seinen langjährigen Konkurrenten François Mitterrand abschütteln, sondern gleich die ganze Partei. Denn die PS, die noch vor einem Jahrzehnt mehr Stimmen als irgendeine andere sozialistische Partei des Westens auf sich versammeln konnte, habe historisch ausgedient. Auf ihren Ruinen soll das Sammelbecken entstehen, von dem Rocard seit seinem dreijährigen Gastspiel als Premierminister Ende der 80er Jahre träumt.

Damals holte er drei Politiker der bürgerlichen Mitte in seine Regierung und fuhr einen konservativ-liberalen Wirtschaftskurs. Im Gegensatz zu Mitterrand, der im Hinblick auf die Parlamentswahlen am 21. März schon 1990 versuchte, das linke Profil der PS zu stärken, bemühte sich Rocard um überparteiliche Kompetenz. Sein Fernziel war die Nachfolge von Mitterrand.

1991 entließ Mitterrand den unberechenbaren, aber populären Premier. Rocard zog sich aus der verschleißenden Tagespolitik zurück, ließ jedoch keinen Zweifel an seinen Rückkehrabsichten. In den vergangenen Tagen, in denen er die französischen Schlagzeilen als potentieller Retter der Sozialisten zurückerobert hat, erklärte Rocard bereits unwidersprochen und von keinem Selbstzweifel getrübt: „Ich bin der Kandidat für 1995.“

Daß er eines Tages das moderate Aushängeschild der Sozialistischen Partei werden würde, war dem heute 62jährigen Rocard nicht in die Wiege gelegt. Die protestantische Bürgerfamilie in Courbevoie hatte für den Sohn eine Karriere als Naturwissenschaftler vorgesehen. Rocard studierte statt dessen an der berühmten Verwaltungsschule ENA, deren elitäre Sprache er stets gepflegt hat, und schlug sich auf die Seite der radikalen Linken. Als einer der ersten Sozialisten kritisierte er den französischen Imperialismus in Algerien. Seit er 1967 Chef der neuen „Vereinigten Sozialistischen Partei“ (PSU) wurde, galt er der undogmatischen Linken im Pariser Mai 68 als Hoffnungsträger. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1969 gewann er als Kandidat der PSU achtbare 3,6 Prozent.

Doch Rocard wurde seinen radikalen Ideen von der „Arbeiterselbstverwaltung“ – seine Lieblinge waren die Besetzer der Lip- Uhrenfabrik – und dem „Kampf gegen das Autoritätsmodell des Kapitalismus“ schnell untreu. Schon 1974 folgte er einer Einladung Mitterrands und trat mit einem Drittel der PSU zur PS über. Kurz darauf kritisierte er Mitterrand schon von rechts. Dorothea Hahn