Nachschlag:

■ Lesung: Wolfgang Max Faust im Berliner Ensemble

Die gepflegt abgenutzte Atmosphäre des Foyers im Berliner Ensemble ist schnell verflogen, die samtroten Sitzmöbel werden „cum tempore“ besetzt. Max Wolfgang Faust, Autor, Kunsthistoriker und Chefredakteur der Kunstzeitschrift Wolkenkratzer, begrüßt Freunde und Bekannte. Man kennt sich.

„Wenn ich jetzt sterben müßte, würde ich sagen, das war alles, und ich habe es so nicht richtig verstanden, und es war laut.“ Diese Sätze von Kurt Tucholsky bilden das Motto des demnächst erscheinenden Buches mit dem Arbeitstitel „DIES ALLES GIBT ES ALSO, Alltag, Kunst, Aids“. Wolfgang Max Faust präsentiert an diesem Abend einen Auszug aus dem Buch, das 300 Seiten und 200 Abbildungen haben wird: biographische Erinnerungen, die „in einen inneren Monolog fließen“, wie er es ausdrückt.

Faust, der seit 1987 weiß, daß er HIV-positiv ist, liest über die Erinnerungen an die ersten Anzeichen der Krankheit und ihren Verlauf. Und präsentiert Reflektionen über die Zeit zu leben, Eigenzeit nennt er sie. „Ich rechne mit meinem baldigen Tod“, stellt er sachlich fest. Und: „Aidskranke entwickeln eine eigene Zeitrechnung“. An solche Sätze fügen sich Gedankenspiele über die Lust am Leben und Wünsche: „Alles was man nicht tut, zieht mich an.“ Zwischendurch kurze Beschreibungen des Alltags, ein Julitag, ein Sommermorgen, der Geruch der Blumen, ein Pfauenauge auf dem Balkon. Häufig ist seine Sprache nüchtern, dann wieder sehr emotional. Tagebuchartiges vermischt sich mit Essayistischem.

Das Thema Kunst deutet der Autor in der Lesung nur an. Die Notiz von der im Verschwinden begriffenen Kunst zieht sich dennoch wie ein Leitmotiv durch den Vortrag. Kurze Thesen über die Kunstszene seit den 60er Jahren, darüber daß die Kunst hinter den Theorien verschwindet und daß die Künstler ihre Werke nach den Theorien basteln. Und über den Kunstmarkt, in dem Kunst für die Kompensation ungelebten Lebens steht. Auch Bemerkungen zu Kunst im Zeitalter von Aids. Viel Kritik ist herauszuhören. Wolfgang Max Faust verweist auf die Ausführungen im Buch.

Hier an diesem Abend statt dessen Biographisches, über Begegnungen mit erkrankten Freunden und ihren Umgang mit dem durch Aids veränderten Leben. Eine zentrale Bedeutung nimmt der Freund und Designtheoretiker Christian Borngreber ein, den Faust im Sterben begleitet. Bei einem Besuch des Freundes hat er eine beispielhafte Begegnung auf dem Krankenhausflur: Faust erkennt einen entfernten Bekannten, fragt: „Sind Sie auch in stationärer Behandlung?“ – „Nein, noch nicht.“ Lakonische Antwort.

Das kurze Porträt des Sängers Klaus Nomi ist auch eine Erinnerung an den selbstbewußten Aufbruch der schwulen Subkultur in den 70ern bis hin zum Aufkommen von Aids, dieser „heimtückischen Krankheit“, an deren Folgen Klaus Nomi 1983 starb.

Noch mehr Alltag: beispielsweise Zeitungsschlagzeilen und Gedanken zur Politik. Dann wieder Beschreibungen der veränderten Eigenwahrnehmung und meditativen Ich-Erfahrung. Außerdem kurze Episoden mit persönlichem, groteskem Witz: Die Putzfrau, die dem Designtheoretiker im Krankenhaus eine schauerlich-häßliche Blumenvase zuteilt.

Wolfgang Max Faust liest zügig, mit gleichmäßig erhobener Stimme, die an manchen Stellen die Trauer nur mühevoll verbergen kann. Dann und wann sieht er auf, um etwas zu pointieren oder Dinge zu erklären, die noch nicht selbstverständlich in die Alltagswahrnehmung vorgedrungen sind – Medikamente zur Aids-Behandlung beispielsweise. Petra Lüschow