■ Das Portrait
: Lillian Gish

Ein tableau vivant, ein couragiertes Porzellanpüppchen, Jungfrau des guten Herzens war Lillian Gish, erste Dame am Hofe des amerikanischen Filmregisseurs D.W. Griffith, die fast so alt wurde wie der Film selbst. „Parallel wie die Schienen der Union Railways verlief ihr Schicksal mit dem des Films“, kommentierte François Truffaut in seiner kleinen Hommage an die Schauspielerin, die ihm vor allem als Portrait in den Taschen amerikanischer Soldaten präsent war. Mit 96 Jahren verstarb sie am Samstag in ihrem Domizil in New York.

Unter einer dicken Schicht weißen Puders, mit fragiler, aber zäher Gestalt war sie prädestiniert für die sentimentalen viktorianischen Romanverfilmungen des frühen amerikanischen Films. Hysterie, untröstlicher Kummer und der Rückzug ins Fach der gutherzigen Jungfer – sie war die WASP, die weiße, angelsächsische Protestantin schlechthin.

Berühmt wurde sie durch Griffiths Kriegsepen, „Birth of a Nation“ (1915) und „Intolerance“ (1916). „Maidenhood crushed by violance“ sollte sie darstellen, die junge Frau an der Wiege der Nation sollte sie mimen, eine Mischung aus Jeanne d'Arc und Emily Brontä – aber die Gish, ein weibliches Pendant zu Buster Keaton, gab ihren Rollen stets ein verschmitzt-koboldiges Unterfutter.

hier Foto Nr. 20

Foto: Reuter

Die Banken, die um 1925 das Filmgeschäft übernommen hatten, wollten das Studio- und nicht das Starsystem, der Name der Firma sollte über dem Film prangen, nicht der einer Schauspielerin. Lillian Gish sollte eines ihrer ersten Opfer werden. Ihre Kollegin Louise Brooks war es, die die Hetzkampagnen als das entlarvte, was sie tatsächlich waren: der Versuch, die Studios endgültig vor die Akteure zu schieben.

Mit ihr wurde ein ganzer Typ abserviert. Statt der ländlichen Unschuld war großstädtische Eleganz, Vamp- irismus und Verruchtheit gefragt. Greta Garbo rollte an aus Europa, Mae West stand in den Startlöchern.

Daß die Gish, trotz aller Anfeindungen, sie könne nicht schauspielern, sondern nur Hysterie produzieren, noch einmal mit dem Western „Duel in the Sun“ oder dem Psychothriller „Night of the Hunter“ an der Seite Robert Mitchums Furore machte, beweist, daß sie zu diesem Zeitpunkt längst kein Porzellanpüppchen mehr war, sondern eine Mime mit großer Zähigkeit, die durchaus auch in Talkies bestehen konnte. Mariam Niroumand