Mit Dampf durchs Braunkohlerevier

Die Lausitzer Braunkohle AG wirbt für die Akzeptanz des „schwarzen Goldes“/ Mondlandschaft oder Naturpark?  ■ Von Detlef Krell

Der deutsche Dampflokpassagier hat ein Auto zu Hause stehen und eine Videokamera in der Hand, er ist ein Mann mit Ehefrau und schulpflichtigem Kind, und er macht gern Picknick im Zug. So sieht es jedenfalls an diesem Sonnabend morgen auf dem zugigen Bahnsteig 4 des Cottbusser Bahnhofes aus. „Sonderfahrt“ ist ausgeschildert, und die Dampflok schon von Leuten umringt. Der junge Mann mit dem Körbchen, aus dem drei Bierkronen und eine Thermoskanne lugen, er grüßt den Lokführer und haut dem schnauzbärtigen Schaffner auf die Schulter. Kinder werden in die Fahrerluke gehievt, Kameras bekommen eine stolz paffende Lok vor die Linse. Fahrgäste suchen in den Reisewagen der 2. Klasse nach ihren Plätzen. Es gibt sogar noch Fahrkarten.

Im Nebenabteil lassen sich vier junge Männer nieder, vielleicht Kollegen. Auf jeden Fall Dampflokfans. Der eine, jener mit dem Körbchen, hat „die ganzen Termine von Dresden mit“, den Jahresplan von „Sachsen- Dampf“. Doch jetzt dampft es erst mal draußen. Ein langer Lokpfiff, der Körbchenmann nickt mit Kennermiene: „Das war optimal, da kannste nicht meckern.“

Der Zug verläßt Cottbus in Richtung Schwarze Pumpe. Heide zieht vorüber, Kiefern und Birken, typisch Lausitzer Mischwald. Trocken scheint diese Heide nur von weitem. Sie ist durchzogen von Bächen und Gräben, spiegelt sich in vielen Teichen und Tümpeln.

Ein Ehepaar, so Mitte vierzig, nimmt Platz. Er mit rotbrauner Kunstlederaktentasche. Sie erleichtert, dem Raucherabteil noch entronnen zu sein. Er entnimmt der Tasche ein zerfleddertes und nicht mehr ganz aktuelles Kursbuch der Deutschen Reichsbahn, dazu einen ladenneuen Autoatlas. Sie muß im Gang sitzen, gibt ihm aber die Orientierungspunkte für den kleinen Finger auf der Landkarte. „Die Kohlebahn ist ganz genau drin“, stellt er erleichtert fest. Der Kauf des gewichtigen Kartenwerkes hat sich gelohnt. „Ich habe ja auch eine Stunde gebraucht, um den richtigen auszuwählen“, läßt er die Gattin wissen. Den Atlas wird er nicht mehr weglegen, der kleine Finger zuckelt treu der Dampflok hinterher.

Zwischen Kohlegleisen, Bretterschuppen und Tagebaurand taucht Bluno auf. Liegt so da mit seinen paar Häuschen und erhebt den Anspruch, ein Dorf zu sein. Bester Beweis ist die Kirche, eine ländlich-derb gefügte Fachwerkkirche aus der Zeit um 1670, die in keinem Reiseführer fehlt. Sie zählt zu den bedeutendsten Baudenkmälern der Lausitz. Doch der Zug dampft weiter, kaum daß jemand Zeit bekam, das Kleinod zu bemerken. „Die Leute hatten Glück, die in ihren Häusern wohnen bleiben konnten“, meint die Atlas-Gattin unvermittelt. Ihr Mann fährt etwas irritiert auf. „Na, meinst du“, entgegnet sie, „jemand ist freiwillig aus dem Dorf weggezogen?“

Schon nähert sich der Zug den qualmenden Schloten von Schwarze Pumpe. Er durchquert das Gelände des Energiewerkes und wechselt unmerklich auf das „zweite Gleisnetz“ der Lausitz über, die Schienen der Kohlebahn. „Stellt die Laubag wieder Leute ein?“ ruft einer von nebenan dem Ex-Kollegen zu, der nun die Fahrgäste begrüßt. Sie erfahren, daß die Lausitzer Braunkohle AG heute Rekultivierungsgebiete ebenso zeigen wolle wie einen aktiven Tagebau und die umliegende Landschaft, das alles garniert von der „Leserdampflok der Lausitzer Rundschau“. Ein Fünfjähriger freut sich: „Papa, wir fahrn imma an deine Arbeit vorbei.“

Mitarbeiter der Lausitzer Braunkohle AG sind zugestiegen. Sie verteilen Gesangbücher mit Bergmannsliedern und Schirmmützen mit dem Firmenlogo. Einer wundert sich, daß die Informationshefte über die heutige Tour nicht reichen. Der Atlas-Mann hat eins abbekommen und mosert, daß die Karte darin viel ungenauer sei als die eigene. Seine Gattin nimmt das Poster über Tiere und Pflanzen in der Lausitz mit. „Sind wir jetzt in Sachsen?“ erkundigt sich ein kleines Mädchen besorgt bei Muttern. Der Frau ist das peinlich. „Wenn das welche hören, die sind doch beleidigt“, tuschelt sie.

Eine frisch bepflanzte Kippe. Bäume stehen wie das Landesheer auf dem Appellplatz. Es wird lange dauern, bis sich in diesem Wald Tiere verstecken können. Der Bahnhof Knappenrode-Süd liegt an einem Naturschutzgebiet. Ganz in der Nähe, an einem versteckten See, lebt eine der größten Graureiherkolonien Deutschlands. Ob diese majestätischen Stelzvögel die beiden Schornsteine des Brikettwerkes zur Orientierung nutzen? Das Werk und die Kolonie sind Nachbarn. Knappenrode, das waren zuerst Kohlelagerstätten, dann ein Bahnhof, schließlich eine Siedlung. Werminghoff, nach dem ersten Besitzer der Grube, hieß das Bergarbeiterstädtchen bis 1945. In den zwanziger Jahren wurde die Brikettfabrik gegründet. In diesem Februar 1993 wird darin das letzte Brikett gepreßt.

Geht es nach dem neuen Förderverein „Lausitzer Bergbaumuseum Knappenrode“, dann wird der backsteingemauerte Industriedom eine einzigartige Sammlung von Spuren der Sozialgeschichte, von Technik und Erzeugnissen des Kohlebergbaus in der Lausitz beherbergen. Die Touristen kämen dann, zum Beispiel, von einer Wanderung durch das Dubringer Moor herüber, einer feuchten Arche für seltene Pflanzen und bedrohte Tiere. Sie besuchten vielleicht vorher die finstere Schowtschickmühle in Groß-Särchen, wo der Zauberer Krabat gelebt haben soll, der sorbische Faust. Nach einem Rundgang durch das Bergbaumuseum könnten sie sich gleich nebenan rekultivierte und produzierende Tagebaue ansehen, die Teichlandschaft erwandern und malerische Dorfkirchen besichtigen. Auf dieser Strecke soll sogar die Kohlebahn als Reisezug wiedererweckt werden, mit einer Station „Museum“. Bei freundlichen Wirtsleuten gäbe es zum Abschluß Pellkartoffeln mit Leinöl und ein warmes Bett.

Noch stehen diese Ideen nur auf dem Papier, aber daran hat immerhin der Direktor des Deutschen Bergbaumuseums Bochum, Rainer Slotta, mitgeschrieben. An Exponaten fehlt es nicht so sehr, dafür an Geld. Für die arbeitslosen Kumpel der Fabrik ist das Bergbaumuseum eher Salz auf die Seele; so etwas wie die eigene Biographie in der Vitrine. Knappenrode kam zur Kohle, nun geht die Kohle weg von Knappenrode, und die Leute müssen bleiben...

Das Tagebauloch Dreiweibern rückt ins Bild. Es ist „ausgekohlt“ und soll bald geflutet werden. Dann können Urlauber hier baden gehen, paddeln und surfen. Wie heute schon im Knappensee und im Silbersee, zwei ehemaligen Gruben, die als gute Beispiele für Bergbaufolgelandschaften gelten. Dort tummeln sich Fischadler und Seeadler, Kormorane und Graureiher, Storch, Fisch und Frosch. 150 Vogelarten brüten an den üppig grünenden Ufern oder lassen sich gelegentlich als Gäste nieder. 1945 ist das aus dem Gebirge stammende Schwarzwasser in den ausgekohlten Tagebau „Glückauf I“ geflossen. Als die Grube voll Wasser war, bekam sie den Namen „Knappensee“. 1971 entstand aus „Glückauf II“ der Silbersee; ein Flecken „Reißbrett-Natur“. Die 70 Millionen Kubikmeter Wasser für „Glückauf III“ beim Dorf Dreiweibern werden aus der Spree und der Kleinen Spree über zwei neugebaute Flußbetten herangeführt.

Für die drei „Glückauf“-Tagebaue wurden innerhalb von siebzig Jahren mehr als 6.000 Hektar Land umgegraben. Alte sorbische Dörfer verschwanden von der Landkarte, die Kleine Spree und das Schwarzwasser erhielten neue Flußläufe. Tümpel, Gräben, Teiche, Bäume und Sträucher mußten dem Griff nach der Kohle weichen. Die Tagebaue raubten der Landschaft soviel Wasser, wie in zwanzig Jahren die Spree hinunterfließt. Mit den einsamen Heidedörfern und den Häusern der Großeltern verloren die sorbischen Menschen ein Stück ihrer Kultur.

Am Horizont dampft das Kohlekraftwerk Boxberg. Es ist das größte in Deutschland und soll noch um zwei rauchgasentschwefelte 500-Megawatt-Blöcke erweitert werden. Der Zug fährt auf einer schmalen Brücke direkt an der Skyline vorbei. „Mit der Dampflok übern Kohlebunker“, raunen die Fachleute. Und auch den Laien dämmert es. „Sensation.“ Wenn da mal nicht die Feuerwehr kommen muß. Der Aschekasten, weiß ein Lokführer, muß zwar geschlossen werden. Aber davon ist er noch lange nicht dicht. „Wie ist dir denn zumute, wenn du siehst, wo du mal gearbeitet hast?“ fragt die Lehrerin. „Ach was“, antwortet der Atlas-Mann, „ich kann ja jetzt mal ein Foto machen.“

Gleich hinter dem Kraftwerk erstreckt sich der Tagebau Nochten. Er soll noch bis nach der Jahrtausendwende Kohle fördern. Der Zug umrundet den Krater, gibt den Blick auf Schaufelradbagger frei, die wie Dinosaurier auf weitem Land stehen. Unter Bäumen versteckt steht die winzige Schrotholzkirche des 40-Seelen-Dorfes Sprey. Ein anmutiges Zeugnis traditioneller Architektur dieser Region. Aus Schrotholz, mit dem Beil behauenem Vierkantholz, wurden hier auch Bauernhöfe gebaut. Wenige sind nur noch in der Heide verstreut und manche von Tagebauen bedroht. Diese Häuser werden im nahegelegenen Rietschen zu einem Museumsdorf arrangiert. Die Spreyer Kirche kann stehenbleiben. Es heißt, sie soll im 14. Jahrhundert erbaut worden sein.

„Wir fahrn auf Papas Gleise“, teilt der Junge stolz mit. Papa sieht verlegen aus dem Fenster. Seine Kumpels lächeln still und erinnern sich an alte Betriebsstories. Wie das war, als man mit seiner Kohlebahn statt der üblichen zweieinhalb Stunden nur eine Stunde brauchte: Schienenrodeo in der Lausitz. Dazu ein Bier und den ersten Sonnenschein dieser Woche. „Das sind Papas Gleise“, der Kleine kann es nicht fassen.

Höhepunkt des Ausflugs ist eine „Scheinanfahrt“. Der Zug hält am Kraftwerk Jänschwalde. Alle Leute steigen aus und suchen sich eine gute Deckung gegen die Sonne mit Blick auf die Dampflok. Der Lokführer läßt sein Schmuckstück erst mal in den Bildhintergrund verschwinden. Dann faucht die Lok schrill auf und rattert mit pechschwarzer Dampfsäule auf die Kameraobjektive zu. Nun kann jeder seinen Ausflug getrost nach Hause tragen. Die Stimmung im Zug lockert sich. Es gibt Büchsenbier, obwohl sich die Fahrgäste unter einem Belehrungspapier der Laubag auch gegen den Alkohol verbünden mußten. Peitz ist die letzte Station, erst die winterleeren Karpfenteiche, dann das Kraftwerk und die Gleisschleife, die den Zug mit Dampf nach Cottbus zurückkehren läßt.

Die Lausitzer Braunkohle AG wirbt für Akzeptanz der heimischen Kohle; Bürgermeister und andere Einheimische wollen am plumpen Klischee von der drögen „Mondlandschaft“ rütteln. Reichlich hundert Jahre Bergbau haben, neben der Textilindustrie, die Landschaft und Kultur der Lausitz wesentlich geprägt. Die sogenannte Katastrophenregion als Geheimtip für Naturliebhaber und Historiker. Das Naturparadies als Katastrophenregion mit 60 Prozent Arbeitslosen.

Dieses Dilemma der Lausitz war in der „Leserdampflokfahrt“ mit auf der Reise. Aber dennoch hat sich Bolle ganz prächtig amüsiert.