■ Zur Diskussion um die Abschaffung des 13. Schuljahres
: Abschied von Prokrustes

Nur Lobbyisten werden bestreiten, daß Schul- und Studienzeiten ins Absurde wuchern. Der statistische deutsche Student verläßt erst nach dem 29. Geburtstag die Universität. Und wenn Oberstufenschüler mit 30 Wochenstunden verpflichtender Kursauflagen zugedeckt werden, dann kann von Bildung ohnehin keine Rede mehr sein. Wann hat ein Schüler Muße, ein Buch zu lesen? Woher soll eigentlich die überall verlangte Kreativität kommen? Schüler werden tatsächlich zu Betriebswirtschaftlern ihrer selbst ausgebildet. Taktisch schleppen sie sich durch die Kurse. Die pädagogischen Institutionen wollen Fässer abfüllen. „Bildung ist aber nicht Abfüllen von Fässern, sondern Entzünden von Flammen.“ Das hat schon der alte Heraklid gewußt. Insofern könnte die Finanznot, die nun die Ministerpräsidenten drängt, die Schulzeit zu verkürzen – mehr als eine Milliarde soll das einbringen, wenn auf das 13. Schuljahr verzichtet wird – heilsam sein.

Aber es sieht nicht danach aus, daß die Chance genutzt wird. Denn „Sparen, koste es, was es wolle“, heißt derzeit die Politikparole. Nun machen sich die Sanierer mit Säge und Axt an die Bildungseinrichtungen. Nach Art des Räuber Prokrustes. Die griechische Mythologie erzählt von seinem Unwesen. Alle sollten in sein Bett passen, in das Prokrustesbett. Wer zu lang ist, dem werden die Füße abgesägt. Prokrustes will das 13. Schuljahr kappen, dafür die restliche Schulzeit intensivieren und verdichten. Grünes Licht für D-Zug- Pädagogik? Höchste Zeit, nicht nur über Zeitquanten, sondern über die Qualität von Zeit nachzudenken. Nach der alten Logik könnte man die Schulzeit bis zur Frühpensionierung ausdehnen. Während Schüler und Studenten pauken, läuft ihnen die Wissensproduktion ohnehin davon. Es fehlt qualitative Zeit: in den vielen Jahren wenigstens einmal eine Sache richtig gemacht zu haben, das dürften viele tatsächlich erst bei der Diplomarbeit erleben, wenn überhaupt. Absurd. Mit Abschneiden ist es also nicht getan. Es geht darum, von Prokrustes Abschied zu nehmen. Das wäre tatsächlich eine Bildungsreform. Denn heute sezieren Schulen und Hochschulen die verknotete Realität in sauber getrennte Wissensfasern. Und je dünner die Fäden gezogen werden, desto länger geraten sie. Dazu braucht man die lineare Stundenplanzeit, die nie reicht.

Wirkliche Lernprozesse verlaufen in Sprüngen. Dann aber öffnen sich Horizonte. Das ist die Zeit intensiver Aha-Erlebnisse, eben die Zeit des Lernens. Zeiten, die man nicht mehr vergißt.

Wenn solche Zeiten zugelassen werden, dann wird der Gewinn, auch der Zeitgewinn, groß sein. Eine List, die Prokrustes nie verstehen wird. Er vergrößert immer den Mangel, den er abschaffen will. Reinhard Kahl

Der Autor ist Journalist mit Schwerpunkt Bildungspolitik