Erloschene Feuer in der Stahlstadt Ozd

Das ungarische Hütten- und Walzwerk ist am Ende – nur noch Exporte in die Europäische Gemeinschaft könnten die Stahlkocher vor dem Ruin retten/ Resignation im Stahlzentrum  ■ Aus Ozd Keno Verseck

Der Himmel über dem Tal von Ozd ist so blau wie seit langer Zeit nicht mehr. Kein Schmutzschleier verwischt die Konturen der Berge ringsum, und auch die Sonne scheint wieder in vollem Licht. Für die Menschen in Ozd aber bedeutet der blaue Himmel Unglück. Denn die klare Sicht hat sie ihre Arbeitsplätze gekostet. Ihnen wäre es lieber, wenn die erkalteten Hochöfen im Herzen der Stadt wieder glühen und die Schornsteine wieder qualmen würden, so wie Jahrzehnte hindurch.

Einst war die nordungarische Stadt mit ihren 50.000 Einwohnern eines der größten Stahlzentren des Landes. Hier wurden in den 80er Jahren 1,5 Millionen Tonnen Stahl jährlich erzeugt, rund ein Drittel der ungarischen Gesamtproduktion. Knapp 14.000 Menschen arbeiteten in den Ozder Hütten- und Walzwerken. Doch in den letzten Jahren ging es bergab mit der ungarischen Stahlindustrie. Seit 1989 brach die Stahlproduktion um mehr als die Hälfte ein, 60 Prozent der Beschäftigten wurden entlassen. Statt Subventionen für Stahl gibt es nur noch Sozialpläne für die Stahlkocher.

Die westeuropäische Stahlkrise der achtziger Jahre erreichte Ozd, das auch für den Export in EG- Länder produzierte, zwar verspätet und abgeschwächt. Doch schon die kommunistischen Wirtschaftsreformer zögerten nicht, 1988 erste Massenentlassungen zu verfügen. Ins Aus geriet die Stahlstadt letztlich aber durch den Zerfall des RGW. Wie ein Großteil der ungarischen Unternehmen verloren auch die Ozder Werke praktisch über Nacht den für sie wichtigen Markt, nachdem die ehemaligen „Bruderstaaten“ im Januar 1991 Weltmarktpreise und Dollarabrechnung im gegenseitigen Handel eingeführt hatten. Gleichzeitig sank auch in Ungarn selbst die Stahlnachfrage rapide.

Nachdem die Ozder Stahlwerke noch 1989 Gewinn gemacht hatten, wiesen deren Bücher 1990 schon eine Milliarde Forint Verlust auf (zum damaligen Kurs rund 25 Millionen Mark), 1991 waren es bereits zweieinhalb Milliarden. Ein Joint-venture mit der deutschen Metallgesellschaft AG, gegründet im Juli 1990, mußte 1991 den Bankrott erklären. Der Stahl war mit einem Verlust von 100 Dollar pro Tonne produziert worden. Im März 1992 machte die ungarische Regierung dann tabula rasa. Auf einen Schlag entließ sie 4.000 ArbeiterInnen; der größte Teil der Stahl- und Walzwerke wurde stillgelegt. Das Arbeitsministerium zahlte 236 Millionen Forint (4,72 Millionen Mark) Endabfindungen und gründete eine Beschäftigungsgesellschaft. Laut neusten Plänen soll deren Stellenplan allerdings von 2.200 auf einige hundert zusammengestrichen werden.

Nur noch die verschwindend geringe Menge von 30.000 Tonnen Stahl wurde letztes Jahr in Ozd produziert, davon gingen 20.000 in den Export, hauptsächlich nach Deutschland und in andere EG- Länder. Die Chancen, daß in Ozd überhaupt etwas vom Stahlkomplex übrrig bleibt, sind mit der derzeitigen EG-Stahlkrise noch gesunken. Seit letzter Woche verhandelt die EG mit Polen der Ex- ČSFR und Ungarn die in den Assoziationsverträgen festgelegten Zollsätze für Stahlexporte neu. Bei Überschreitung der Exportkontingente sollen außerdem in Zukunft Strafzölle verhängt werden.

Das ungarische Industrieministerium wehrt sich gegen diese „Gleichbehandlung“. Ungarn habe im letzten Jahr lediglich 350.000 Tonnen Stahl in die EG exportiert, was etwa 2,6 Prozent der gesamten EG-Produktion entspreche und außerdem nur einen Bruchteil der polnischen und tschechisch-slowakischen Exporte ausmache. Das sieht auch Tibor Szöke so, in Ozd vom Industieministerium eingesetzter Nachlaßverwalter in Sachen Stahlwerke. „Es würde uns schon helfen, wenn die EG ihre Beschränkungen aufheben oder zumindest nicht ausweiten würde. Ich möchte endlich die EG-Anerkennung dafür sehen, daß wir uns in einer anderen Situation befinden als Polen, die Tschechische Republik und die Slowakei. Wir haben uns seit Jahren bemüht, im Stahlbereich gute Partner für die EG zu sein, haben uns selbst beschränkt und werden dennoch mit anderen Ländern in einen Topf geworfen.“

Mittlerweile gibt es in Ozd und Umgebung fast so viele Arbeitslose, wie einst Stahlarbeiter beschäftigt waren – rund 11.000, 25 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. In Ozd selbst ist fast jeder zweite ohne Arbeit. Nur noch 3.300 Arbeiter sind in den Werken beschäftigt, viele davon mit null Stunden Kurzarbeit. Maximal 2.000 sollen in Zukunft bleiben. Außer verbitterten Worten über die neue Zeit und die erste frei gewählte Regierung weiß hier fast niemand etwas zu sagen. „Man darf Ozd nicht begraben“, meint Sandor Bokor, der Leiter des regionalen Arbeitsamtes, hilflos und zeigt seine steil in die Höhe weisenden Arbeitslosenstatistiken.

In Ozd war das Stahlwerk die Stadt, der Rest ein Vorort. Sogar räumlich. Statt eines Marktplatzes haben die Bewohner heute im Zentrum eine Ruine stehen. Hier, in der Ozder Stahlwerk AG, arbeiten ein paar hundert am Abriß der alten Stahlkochanlagen. Der Metallschrott reicht höchstens hin, um einen Bruchteil der einige Milliarden Forint Schulden zu bezahlen. Laszlo Safranka, der frühere Produktionsleiter im Werk, der hier mehr als zwei Jahrzehnte angestellt war und nun die Abrißarbeiten überwacht, zeigt dem Besucher die riesigen, stillen Hallen, durch die ein eisiger Wind weht. Nur hin und wieder erläutert er wortkarg die Funktion einiger Anlagen. „Das tragische ist“, sagt er, „daß unsere Stadt nur ein einziges Unternehmen war.“

Safranka hofft, neuer Produktionsleiter des Ministahlwerkes zu werden. Auf diesen Namen lauten die bescheidenen Zukunftspläne des Regierungsbeauftragten Tibor Szöke. Mit einem Ministahlwerk (Kapazität: 400–500.000 Tonnen), in dem maximal 600 Arbeiter beschäftigt wären, könnten zwar die „Beschäftigungsprobleme nicht gelöst werden, aber wenigstens der Standort Ozd erhalten bleiben“, stellt sich Szöke vor. Zusammen mit dem Feinwalzwerk, daß einige Kilometer außerhalb von Ozd steht und nach einem Jahr Stillstand demnächst wieder den Betrieb aufnehmen soll, könne eine breite Palette von Stahlprodukten angeboten werden.

Eine „Feasibility“-Studie, die derzeit von einer kanadischen Firma erstellt wird, soll „schwarz auf weiß beweisen, daß es sich noch lohnt, hier weiterzuarbeiten“, so Szöke. Der Regierungsbeauftragte hat bereits Pläne für das zukünftige Unternehmen geschmiedet. Die Hälfte des Grundkapitals in Höhe von 80 Millionen Dollar soll eine internationale Finanzinstitution einbringen – eine Absichtserklärung der Osteuropa- Bank EBRD liegt bereits vor. Für die andere Hälfte sucht Szöke eine ungarisch-ausländische Eigentümergruppe; Verhandlungen mit deutschen, amerikanischen und ungarischen Interessenten laufen. „Das größte Problem“, meint Szöke, „ist, daß unser Standort keine Anziehungskraft hat. Die Straßen, die Eisenbahnverbindung, die Telekommunikation, die gesamte Infrastruktur ist schlecht. Dafür ist die Landschaft schön. Vielleicht wird es eines Tages hier nur noch Tourismus geben.“