In Hausschuhen auf Trebe

■ Der 12jährige Andreas S. riß für drei Tage von zu Hause aus / Ex-Besetzerinnen gewährten Unterschlupf und handelten sich Ärger mit Polizei und Eltern ein

Friedrichshain. Mit Flugblättern und Lautsprecherdurchsagen hatte die Polizei die Anwohner der Grünberger Straße letzte Woche um Mithilfe gebeten. Gesucht wurde ein 12jähriger Junge, der am vergangenen Donnerstag gegen 18 Uhr aus der elterlichen Wohnung in der Grünberger Straße weggelaufen war: Der vermißte Andreas S. wirke jünger, als er sei, habe eine schmächtige Gestalt, aschblonde kurze Haare, braune Augen und seit zum Zeitpunkt seines Verschwindens nur mit einem Norwegerpulli, Jeans und Hausschuhen bekleidet gewesen.

Was die Eltern kaum noch zu hoffen gewagt hatten: Andreas tauchte drei Tage später, am Sonntag um 12 Uhr mittags, wohlbehalten wieder auf. Er war die ganze Zeit in dem schräg gegenüberliegenden ehemals besetzten und jetzt legalisierten Haus Grünberger Straße 73 gewesen.

„Der Junge stank drei Meilen gegen den Wind“, erinnert sich seine Mutter, die 31jährige Erzieherin Ramona S. „Seine neue Jeans war mit Textilspray grün und blau gefärbt. Eigentlich hätte ihm der Arsch versohlt gehört.“ Aber sie und ihr Mann seien viel zu froh gewesen, um Andreas böse zu sein. Wenn sie auf jemanden sauer sei, dann seien es die „Hausbesetzer“.

„Die Polizei ist hier am Samstag mit dem Lautsprecherwagen rauf und runter gefahren. Spätestens dann hätten die Besetzer melden müssen, daß der Junge dort ist“, schimpft die Frau. Warum das Kind von zu Hause abgehauen ist? Andreas sei „ein kleiner Einzelgänger“, will Ramona S. zunächst nicht so recht mit der Sprache heraus. Dann erzählt sie, daß der Junge aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens – der ihm aber nicht sofort anzumerken sei – behindert ist, eine Therapie mache und eine Sonderschule besuche.

„Im Moment“ sei Andreas etwas schwierig, wohl auch, weil er bald in die Pubertät komme. „Er läßt sich keine Vorschriften machen. Es paßt ihm nicht, sein Zimmer aufzuräumen, und überhaupt findet er, daß wir zu ihm alle furchtbar böse und ungerecht sind“, erregt sich Ramona S., zunehmend lauter werdend.

An dem Tag, an dem Andreas weglief, sei eigentlich nichts besonderes vorgefallen, meint die Mutter. „Ich habe ihm auf der Straße nur erklärt, daß es Ärger mit den Autobesitzern gibt, wenn er den Schnee von den Autos kratzt. Schließlich kann das Lackschäden verursachen. Aber daß war ihm schon wieder zuviel. Dann war er plötzlich weg.“ Weil er bislang nie länger als zwei Stunden weggeblieben sei, sei sie davon ausgegangen, er komme gleich wieder.

Unten auf der Straße begegnete Andreas der 17jährigen Chris (Name geändert). Die junge Frau, die mit ihren Freundinnen im Hinterhaus der Grünberger Straße 73 wohnt, tollte mit ihrem Hund auf der Straße herum. „Der Kurze ist mir aufgefallen, weil es stockdunkel war und er bei der Saukälte nur Hausschuhe anhatte“, erinnert sich die junge Frau, die ausgesprochen fröhlich und warmherzig wirkt. „Er hat gesagt, er sei von zu Hause rausgeflogen und würde auf der Parkbank pennen.“ Später habe sie ihm ein Marmeladenbrot und einen Kakao runtergebracht. „Seine Hausschuhe waren schon ganz durchgeweicht“, erzählt Chris weiter. „Ich habe ihm gesagt, auf der Parkbank kriegste 'ne Lungenentzündung. Komm doch für eine Nacht mit zu mir. Erst wollte er nicht, aber dann hat er's doch gemacht.“ Zu Hause habe sie ihm ihr Zimmer abgetreten – „das ist dein Zimmer. Du kannst hier machen, was du willst“ – und ihm den Ofen geheizt. Auf die Frage, warum sie die Eltern nicht informierte, winkt die junge Frau ab. „Wir wollten nicht die Bullen spielen und in ihn dringen.“ „Wir haben ihn so akzeptiert, wie er ist. Darum hat er sich bei uns auch so wohl gefühlt.“ Von der Großfahndung, behauptet sie, „haben wir im Hinterhaus nichts mitgekriegt“. Am Sonntag habe „der Kurze“ gesagt, nun wolle er nach Hause. „Damit er keine Dresche kriegt“, so Chris, „sind zwei von uns mitgegangen.“

„Irgendwie fand er es bei denen toll“, gesteht Andreas Mutter nicht ganz leichten Herzens ein. „Es hat ihm wohl gefallen, daß ihn keiner bevormundet hat.“ Viel habe der Junge nach seiner Rückkehr nicht erzählt: von Schneeballschlachten, daß es hauptsächlich Stullen, viel Obst und einmal Nudelsuppe gab und immer wieder begeistert von Chris und dem Hund. Trotzdem glaubt Ramona S., daß der Ausflug nicht gut für ihren Sohn war: „Sonst hätte er danach nicht 13 Stunden durchgeschlafen und würde nicht mitten am Tag schon wieder schlafen“, meint die Frau mit Blick auf die geschlossene Tür seines Zimmers. „Er ist dort manchmal erst um eins ins Bett gegangen. Essen konnte er, wann er wollte, und gewaschen hat er sich auch nicht. Kinder brauchen Regelmäßigkeiten“, ist die Erzieherin überzeugt. „Andreas muß lernen, daß nicht alles nach seiner Nase geht.“ Die 17jährige Chris, die in ihrer Jugend selbst mal eine Woche auf Trebe war, sieht das anders. „Das Grundproblem ist, daß die Eltern ihre Kinder nicht ernst nehmen.“ Sonst würden nicht tagtäglich Hunderte von Kindern von zu Hause abhauen. Verschärfend hinzu käme, daß es für Kinder unter 14 überhaupt keine Anlaufstelle gebe. Daß sich Andreas Eltern Sorgen machen, hat die 17jährige ebensowenig bedacht wie den Ärger, den sie sich selbst beinahe eingehandelt hätte. „Mir war es wichtiger, dem Kurzen zu helfen.“ Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als würde die Kripo gegen Chris und ihre Freundinnen ein Ermittlungsverfahren wegen Kindesentziehung eröffnen. Da Andreas Eltern aber keinen Strafantrag stellten, „scheint die Sache aus der Welt zu sein“, meint ein Polizeisprecher.

Nicht ganz. Am Montag faßte sich Chris ein Herz und ging zu Andreas Mutter, um sich mit dieser auszusprechen. Das Ergebnis: Vielleicht wird Ramona S. die Ex- Besetzerinnen demnächst mit Andreas besuchen. „Nach dem Gespräch“, so Chris, „hatten wir ein ganz gutes Gefühl.“ Plutonia Plarre