Am liebsten große Fleischstücke

■ ORB-Talk-Radio "Dr. Kuttners Sprechfunk" gerettet: Eine Huldigung an den bezopften Telefonisten

Freuet euch, all ihr Heulbojen im Norden! Fast wäre auch das allsonntägliche Talk-Radio für Opi, Hund und Enkel zusammen mit RockradioB den Orkus hinabgeglibbert, nicht auszudenken. Aber „Dr. Kuttners Sprechfunk“ lebt! (Jeden Dienstagabend, als „Blue Moon“ getarnt, bei Fritz!, der neuen SFB/ORB-Jugendwelle.) Auch Dr. Kuttner selbst lebt, ist gesund und ein wirklicher Mensch, zu Anfang einer Sendung so um die 21 Jahre alt, groß, überwiegend rothaarig und sommersprossig, zu Ende derselben eher 46, mittelgroß, stoppelbärtig, dunkel bezopft und sorgenvoll „Eieiei“ murmelnd.

Über Dr. Kuttners ungeordnete Privatverhältnisse darf hier nichts stehen, denn Kuttner ist eine öffentliche Person – gerade wurde Bild auf ihn aufmerksam –, und weil das alle lesen, würde es nichts als Verwirrung stiften. Es sei nur angedeutet, daß an Kuttners beeindruckender Männerbrust um die acht Sendetechnikerinnen Platz finden, was, von oben betrachtet, ein recht hübscher Anblick ist. Kuttner ist also sehr geheimnisvoll und daher aufregend, aber dennoch ein Mensch wie du und ich. Er ißt gern Salat mit Schafskäse, am liebsten aber große Fleischstücke, und entspannt vor, während und nach der Sendung bei einem Markenbier. Zum Feierabend ballert er gern Kometen am Computer ab und guckt alte schwarzweiße Ami-Filme, wenn sie gut gebaut sind. Sein Traum ist es, „Casablanca“ neu zu verfilmen, mit Kuttner als Humphrey Bogart– eine gewisse Ähnlichkeit ist ja, abgesehen von der hohen Stirn, durchaus gewiß mitunter vorhanden. Leider mangelt es bisher an einer ebenbürtigen Ingrid Bergmann; so bleiben großartige Lebenspläne unerfüllt. Aber Kuttner hat sogar einen ordentlichen Beruf erlernt und gilt als Kunstwissenschaftler von maßloser Kreativität, was jeden „Sprechfunk“ zum künstlerisch wertvollen Erlebnis macht.

Kuttner kann professionell die Zeit ansagen und Sätze mit extrem breiten Schultern bauen, die jede Menge Bedeutung bis hin zum Globalen transportieren. In Kuttners Sendung wird aus ideologischen Gründen benachteiligte Musik gespielt, zum Beispiel Ernst Busch, Schubert, Juliane Werding oder der legendäre Chor der Roten Sowjetarmee, und immer gibt es ein anspruchsvolles Thema. Letztens wollte Kuttner gemeinsam mit den Hörern ein Kreuzworträtsel lösen, konnte aber wegen Bildungslücken im Publikum die als Preis ausgeschriebene Flugreise für zwei Personen nach Oranienburg nicht antreten. Kuttner hat es nicht so leicht, wenn er, wie es so oft sein unabweisbarer Eindruck ist, „mit richtigen Menschen telefoniert“, denn meistens sind sie männlichen Geschlechts, während die Frauen im Hintergrund kichern. Beim „Sprechfunk“ darf jeder Depp anrufen, ohne Ansehen von Alter, Stand oder Person – Kuttner läßt fast immer ausreden [schamlose, dreiste Lüge! d.Red.], denn er will „die Leute ooch nich abschrecken“. Aus diesem Grunde beachtet er auch immer das Ästhetische und beschreibt den Hörern draußen sehr schön, wenn sich gerade eine quietschgelbe Platte schick unterm schwarzen Tonabnehmer dreht. Kuttner zur Seite steht ein fusselfreier halbautomatisierter Anrufbeantworter, Modell „Jens“, den anzufassen verboten ist, weil er pausenlos Elogen an Kuttner („Der Kuttner tut uns gut/ drum ziehen wir den Hut!“) sowie ganz selten Beschimpfungen entgegennehmen muß und nicht abgelenkt werden darf. Man könnte fast behaupten, Kuttners 93er „Sprechfunk“ ist eine prima Sendung im Moment die ganze Zeit. Anke Westphal