Menschliches

■ Helmuth Schmiedts Untersuchung „Liebe, Ehe, Ehebruch“

Probleme bei der Auswahl der Texte dürfte der Verfasser einer neuen Untersuchung mit dem Titel „Liebe, Ehe, Ehebruch“ wohl nicht gehabt haben; schon der Danziger Bohèmedichter Paul Scheerbart (1863–1915) mußte in seinem betont antierotischen Roman „Ich liebe Dich“ (1897) konstatieren, daß Liebe das für ihn wenig interessante Dauerthema der Literatur sei. Der Bonner Literaturwissenschaftler Helmut Schmiedt hat in seinem Buch Romane aus 300 Jahren unter dem Aspekt betrachtet, inwieweit sich die Begriffe von Ehe, Liebe und Leidenschaft in ihrer literarischen Ausformung wandeln.

Im Einleitungskapitel dieser flüssig geschriebenen und spannend zu lesenden Studie zeichnet Schmiedt die Veränderungen nach, denen Heirat, Familie und Liebe im sozialhistorischen Prozeß seit etwa 1700 unterworfen war. Diese empirische Ebene bietet quasi den Stoff für den Dichter und wirkt auf dessen ästhetische Konzeption ein. Er erfährt aber durch die besondere Wahrnehmung des Künstlers und seine Präferenzen, die nur selten typisch sind für eine soziale Schicht, von der erfahrbaren Wirklichkeit deutliche Abweichungen. Hinzu kommt, daß das Kunstwerk stilisiert und verfremdet, so daß Vorsicht geboten ist, will man einen direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und der fiktiven Welt der Romane herstellen. Gleichwohl kann der Autor deutlich machen, daß beide Sphären wechselwirkend aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig erhellen. So kann Schmiedt dank der historisch angelegten Perspektive Buch führen über zum Teil überraschend zutage geförderte Tatbestände: Während bei Grimmelshausen die geistige oder emotionale Beziehung zur Ehefrau für den Romanhelden keine Rolle spielt, sondern lediglich die Überlegung zur Ehe führt, ob er durch eine Heirat ökonomisch besser stehe, entfaltet sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts an Stelle dieses Zweckrationalismus das Ideal der Neigungsehe, das noch das gesamte 19. Jahrhundert überdauern wird. Gestützt wird diese Entwicklung vornehmlich durch die sich emanzipierende bürgerliche Schicht, in der sich allerdings auch die erste Skepsis am Harmoniebestreben breitmacht. Geradlinig und störungsfrei war der Prozeß freilich nie verlaufen, wie die Beispiele „Werther“ oder „Wahlverwandtschaften“, Arnims „Gräfin Dolores“ oder Stifters „Das alte Siegel“ zeigen. Doch zum Bruch mit dem Ideal kommt es erst am Ende des 19. Jahrhunderts wie „Effi Briest“ ex negativo zeigt. Überraschend greift Schmiedt keinen Text aus der Zeit zwischen diesem Fontane-Roman und Arno Schmidts „Steinernem Herzen“ auf, so daß die folgenschwere Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit die Krise des Individuums, ausgeblendet ist.

Einleuchtend und nicht ohne Reiz ist Schmiedts These, die Wandlungen der Ehekonzeptionen in den literarischen Werken ließen sich besonders gut dort herausarbeiten, wo am deutlichsten gegen die gesellschaftliche Norm verstoßen werde: dem gewünschten oder vollzogenen, offen oder verdeckten Ehebruch. Während der außereheliche Geschlechtsverkehr in den älteren Werken eine zentrale Rolle spielt, auf den fast alle Motivstränge zu beziehen sind, ist er in den behandelten Romanen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, nur noch als Marginalie (A. Schmidt, M. Walser, R. D. Brinkmann, E. Jelinek) vorhanden. Hier wird statt dessen in detailreicher Offenheit über Trieb, Sexualität und Lust verhandelt.

Der Ehebruch, der in allen ausgewählten Texten dargestellt wird, ist, sieht man einmal von Peter von Matts 1989 erschienem Buch „Liebesverrat“ ab, bisher als Sujet kaum so ausführlich erörtert worden wie von Helmut Schmiedt. Erfreulich ist, daß seine Untersuchung sowohl dem Normalleser wie dem Fachwissenschaftler neue Einsichten vermitteln kann. Methodisch fundiert, aber auch originell, arbeitet der Verfasser 300 Jahre (Literatur-)Geschichte auf. Ein kleiner kritischer Einwand: Es wurden ausschließlich kanonisierte oder sehr bekannte Romane herangezogen: Interessante Aspekte hätte sicherlich auch ein Prosatext wie Oskar Maria Grafs „Die Ehe des Herrn Bolwieser“ (1931) geliefert, wodurch auch die erwähnte zeitliche Lücke geschlossen worden wäre. Michael M. Schardt

Helmut Schmiedt: „Liebe, Ehe, Ehebruch. Ein Spannungsfeld aus deutscher Prosa von Gellert bis Jelinek“. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, 160 Seiten, 38 DM