■ Zum UNO-Bericht über Todeslager im Irak: Eine neue Anfal-Kampagne
Der Begriff Anfal bezeichnet eigentlich eine Sammlung von Suren des Koran und meint – bezeichnenderweise in diesem Kontext – soviel wie eine religiös legitimierte Beute. Im Irak steht Anfal für Massendeportation und Massenmord, seit im Jahre 1988 vermutlich Hunderttausende von Kurden im Rahmen einer gleichnamigen „Kampagne“ in den Südirak verschleppt, getötet und in Massengräbern verscharrt wurden.
Diesmal sind es nicht Kurden, sondern Schiiten im Süden des Landes, die Opfer einer neuerlichen Anfal- Kampagne werden. Die Kontinuität der Begriffe und damit auch die der planmäßigen Ausrottung ganzer Bevölkerungsteile wird dabei von der irakischen Führung durchaus selbst hergestellt: Das Kanalprojekt, mit dem die unwegsame Sumpfregion zwischen Euphrat und Tigris ausgetrocknet werden soll – Lebensgebiet der Madan, einer uralten Zivilisation, und traditionelles Rückzugsgebiet für politisch Verfolgte und Deserteure –, wurde von seinen Architekten in Bagdad „Anfal 3“ getauft.
Über die Begrifflichkeit hinaus gibt es eine weitere, besonders perfide Parallele zwischen den „Kampagnen“ gegen die Kurden und den jetzigen Berichten über Todeslager für Schiiten: die Art und Weise, wie der Massenmord organisiert und abgewickelt wird. Verschleppte man die Kurden 1988 in den Süden des Landes und wurden sie dort erschossen, so verläuft der Todestreck jetzt in umgekehrter Richtung: die Schiiten werden in den Norden deportiert, in Lagern zusammengepfercht und umgebracht. Die TodeskandidatInnen werden also von ihren Familien und Nachbarn, ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe isoliert. Neben dem naheliegenden Aspekt, auf diese Weise Unruhen oder Proteste zu vermeiden, liegt dem jedoch, wie der Fall Kurdistan zeigt, ein weiterreichendes Kalkül zugrunde: den Mantel des Schweigens über den Massenmord auszubreiten. Als die kurdischen Dörfer damals systematisch „entleert“ wurden, war zunächst von „Umsiedlungen“, „Deportationen“ und schließlich von „Verschwundenen“ die Rede. Es dauerte drei Jahre, bis in der Folge des Golfkrieges und der Befreiung Kurdistans das ganze Ausmaß dieser Verbrechen öffentlich bekannt wurde.
So weit wie damals ist es jetzt noch nicht – noch nicht. Dem neuen UNO-Bericht zufolge harren derzeit Hunderte von Menschen in den Todeslagern aus. Noch ist also Zeit, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen, die Gefangenen zu befreien. Noch. Doch in der Vergangenheit haben Schüsse auf US-Flugzeuge und irakische Grenzverletzungen in Kuwait stets schärfere internationale Reaktionen nach sich gezogen als Saddam Husseins mörderisches Vorgehen gegenüber Teilen der eigenen Bevölkerung. Beate Seel
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