„Wir laufen noch ganz in den alten Denkmustern“

■ Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) zur politischen Großwetterlage über Hessen: Wir profitieren vom Tief der CDU nicht so, wie ich es wünschen würde

taz: Früher hat die SPD vom Formtief einer CDU-geführten Bundesregierung profitiert. Heute schlägt sich die Enttäuschung über die Bonner Politik im prognostizierten Anstieg der NichtwählerInnen und in einem „Coming-out“ vor allem der „Republikaner“ nieder.

Hans Eichel: Die CDU geht heute tatsächlich wieder tief in den Keller. Die SPD profitiert zwar davon – aber nicht in dem Maße, wie ich es mir wünschen würde. Daneben steigt der Anteil der NichtwählerInnen. Und die traditionellen Bindungen von WählerInnen an bestimmte Parteien sind in Erosion begriffen. Das alles macht mir große Sorge. Die Hauptursache dafür sehe ich in Defiziten auch unserer Politik: Wir haben uns nicht offensiv und intensiv genug um das untere Drittel der Gesellschaft gekümmert.

Nutznießer davon sind die Rechtsaußenparteien, die im Wahlkampf ja auch zunehmend nicht mehr nur mit dem plumpen „Ausländer raus!“ auf Stimmenfang gehen, sondern direkt die politische Klasse angreifen...

Die Leute sind deshalb politikverdrossen, weil ihre Grundprobleme tatsächlich nicht mehr gelöst werden. Mit dem Wohlstand in diesem Lande ist gleichzeitig die Armut gewachsen – und kaum einer hat das registriert. Der Kanzler hat recht, wenn er heute sagt, daß es nichts mehr zu verteilen gibt, weil seit 1989 für Politik in diesem Lande völlig veränderte Rahmenbedingungen herrschen. Wir müssen heute abgeben in Richtung Osten und in Richtung Süden. Aber wir müssen auch die immer stärker zutage tretenden sozialen Ungerechtigkeiten im eigenen Land abbauen. Diese Botschaft muß die SPD rüberbringen.

Die Arbeitsmarktlage etwa hat sich dramatisch verschärft. Und deshalb brauchen wir endlich ein umfassendes Konzept für all die Menschen, die aus dem Arbeitsprozeß herausfallen. Wir müssen einen zweiten Arbeitsmarkt aufbauen, wie wir das ansatzweise in unseren Vorschlägen zum Solidarpakt formuliert haben.

Was verstehen Sie unter einem „zweiten Arbeitsmarkt“ – und wie ist der zu finanzieren?

Der Witz am zweiten Arbeitsmarkt ist doch der, daß er nicht sehr viel teurer ist als die Hinnahme der Arbeitslosigkeit. Es gibt zahlreiche Arbeitsplätze, die bei geringeren Lohnkosten erhalten oder geschaffen werden könnten. Die Differenz zum Tariflohn zahlt dann der Staat. Es wäre vielleicht sogar sinnvoll, diesen zweiten Arbeitsmarkt mit Löhnen unter Tarif auszustatten, damit es für die dort Beschäftigten einen Anreiz gibt, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Das darf kein „Herunterfallen“ auf 68 Prozent geben, sondern das Ganze muß bei etwa 90 Prozent des Tariflohnniveaus angesiedelt werden.

Doch hat nicht gerade die SPD ihre klassische Klientel, die FabrikarbeiterInnen, die zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, in den letzten zehn Jahren grob vernachlässigt?

Ich will das nicht bestreiten. Dieser Vorwurf trifft aber nicht die SPD alleine. Die ganze Gesellschaft glaubte bis 1989 noch, daß es immer weiter aufwärts gehen würde. Wir haben tatsächlich die 1,8 Millionen Arbeitslosen, die es auch in den ökonomisch guten Jahren immer gab, auf die leichte Schulter genommen. Wir haben diesen Zustand nicht offensiv genug bekämpft – auch nicht wir Sozialdemokraten.

Weil es kaum noch etwas zu verteilen gibt, werden die Verteilungskämpfe immer härter. Kann man unter diesen Bedingungen überhaupt noch innovative Politik in der von Ihnen postulierten Richtung betreiben?

Das glaube ich nach wie vor. Nehmen wir als Beispiel den Wohnungsbau. Da werden ungefähr sechs Milliarden Mark jährlich an Steuersubventionen ausgeschüttet, damit Leute vorhandene Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umwandeln – und das in Zeiten, in denen es eklatant an Mietwohnungen mangelt! Das sind Milliardenbeträge, die schlicht zum Fenster hinausgeworfen werden, und die sinnvoller für den sozialen Wohnungsbau verwendet werden könnten. Hier wird deutlich, daß man noch Steuerungsinstrumente hat, wenn man den Mut aufbringt, das Politikziel soziale Gerechtigkeit klar zu benennen und darauf hinzuarbeiten.

Würden Sie sagen, daß bei Bill Clinton die Richtung stimmt?

Ja! Der Mann hat den richtigen Antritt gefunden – und wir haben immer noch einen abgewirtschafteten Kanzler. Wir streiten uns – und das sage ich nicht ohne Selbstkritik – um den zwingend notwendigen Solidarpakt, und zwar mit denselben abgegriffenen Methoden wie seit Jahren. Wir laufen ganz in den alten Denk- und Verhaltensmustern, obgleich sich die Rahmenbedingungen dramatisch verändert haben. Clinton hat den Mut, von allen etwas zu verlangen.

Bei der SPD ist aber weit und breit kein „Clinton“ zu entdecken. Im Gegenteil, Engholm ist alles andere als eine „charismatische Lichtgestalt“...

Ich glaube nicht, daß es uns an klarer Programmatik mangelt. Unser Konzept zum Solidarpakt ähnelt in wesentlichen Punkten dem, was Bill Clinton in Amerika machen will. Wir haben ein anderes Problem: Bei uns wird an der Spitze zuwenig im Team gedacht – und es gibt zu viele solistische Auftritte. Das kann leicht das ganze Bild kaputtmachen. Und es gibt ein Problem der Vermittlung, wie ich im Kommunalwahlkampf immer wieder erfahren mußte. Mit „charismatischen Lichtgestalten“ habe ich so meine Probleme. Aber ein paar Emotionen mehr dürften gerne im Spiel sein. Schließlich machen wir als Menschen Politik für Menschen – und nicht als Technokraten.