: Fischer legt Chemieindustrie an die Kette
■ 100 gefährliche Chemieanlagen in Hessen werden überprüft/ Hilger gerüffelt
Frankfurt am Main (taz) – Der hessische Umweltminister Joschka Fischer (Die Grünen) hat gestern in Wiesbaden ein umfassendes Sicherheitsprogramm für gefährliche Chemieanlagen vorgestellt. Nach dem Störfall bei der Hoechst AG hält es Fischer für unerläßlich, die rund 100 hessischen Chemieanlagen, in denen „exotherme, diskontinuierliche Reaktionen“ stattfinden und möglicher Überdruck über Berstscheiben oder Sicherheitsventile abgelassen wird, umgehend zu überprüfen. Im Auftrag der staatlichen Gewerbeaufsichtsämter sollen ein oder zwei unabhängige technische Überwachungsvereine demnächst die Sicherheitsanalysen der Betreiber durchchecken und vor Ort eine Anlageüberwachung durchführen. Geprüft werden soll, „ob alle technischen Möglichkeiten, die dem Stand der Sicherheitstechnik entsprechen, installiert und alle notwendigen organisatorischen Maßnahmen ergriffen worden sind, um eine Freisetzung von Stoffen zu verhindern“. Der Erhalt des Chemiestandortes Hessen, so Fischer weiter, sei nur gesichert, wenn ein Höchststandard an Sicherheit gewährleistet sei – „und der wird nicht billig zu haben sein für die Chemieindustrie“.
Fischer griff den Hoechst-Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Hilger direkt an. Es müsse Schluß sein mit dem Gerede, daß wir in Deutschland „zu viel und zu teuren Umweltschutz“ hätten. „Wir haben im Gegenteil – wie der Störfall bei Hoechst bewiesen hat – zu wenig Umweltschutz.“ Die Hoechst AG sei aufgefordert worden, umgehend ein Alarm-Infosystem zu erarbeiten und der Bevölkerung zu erklären: „Was wird hergestellt? Wie wird es hergestellt? Und wie gefährlich ist das alles?“
Am Nachmittag legte Fischer dem Landtagsausschuß für Umwelt einen 45seitigen Bericht zum Chemieunfall vor, in den auch die Ergebnisse der sogenannten Expertenrunde eingingen, die am Montag die Folgen des Störfalles bei der Hoechst AG erörtert hatte. Daß der Toxikologe Otmar Wassermann vor dem Treffen die „Evakuierung“ von rund 100 Kindern aus dem vom gelben Chemieniederschlag besonders betroffenen Frankfurter Stadtteil Schwanheim forderte, hatte für Verstimmungen unter den Experten gesorgt. „Panikmache“ war Wassermann vorgeworfen worden. Die Experten kamen zu dem Ergebnis, der Chemie-Cocktail sei „minderkrebserregend“ und eine „Ausgasung bei Wärmentwicklung“ erhöhe das Risiko nicht. Trotzdem sah Fischer gestern keinen Grund, die eingeleiteten Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerung aufzuheben oder zu lockern, zumindest solange das Gift nicht restlos beseitigt sei. So werden in Schwanheim selbst die Hunde weiter mit Plastiksöckchen der Hoechst AG Gassi gehen müssen. Klaus-Peter Klingelschmitt
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