„Die Täter sind auch Opfer“

■ Keine Patentrezepte bei Tagung zum Thema Jugendgewalt

„Gewalt durch Jugendliche ist ein Signal, daß etwas in der Erwachsenenwelt nicht stimmt. Trotz des Postulats einer gewaltfreien Gesellschaft erfahren Heranwachsende täglich Gewalt: physische Gewalt in der Familie, psychologische Gewalt in der Schule, strukturelle Gewalt bei überteuerten Mieten und Drogensucht.“ Rainer Sauter vom Stadtteilverein SO 36 aus Berlin-Kreuzberg referierte gestern im Lidice-Haus in Vegesack zum Thema „Gewaltbereitschaft bei deutschen und ausländischen Jugendlichen“ vor SozialpädgogInnen und LehrerInnen. Seine Hauptthese: Gewalttätige Jugendliche sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer.

Gewalt durch Heranwachsende ist kein neues Phänomen. Immer schon gab es „Halbstarke“ oder „Rocker“. Neu sind bei der Gewalt drei Punkte: Die Täter werden immer jünger, die Delikte immer brutaler und mit Waffen ausgetragen; vor allem mehren sich die Angriffe von Gruppen und auf bestimmte kollektive Feindbilder. Nicht Bodo von gegenüber wird verdroschen, sondern jeder Skin/Türke/Antifa-Kämpfer. Der „Spiegel“, widmete den „Kindern, die töten“ diese Woche eine Titelgeschichte. Danach war 1991 jeder siebte Tatverdächtige jünger als 18 Jahre, 4,5 Prozemt sogar unter 14. Den Hauptgrund dafür sieht Sauter im Fehlen von Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: „Nur sehr selten können die Kids heute echte Selbstverwaltung und Selbstverantwortung einüben. Ihre Sozialisierung erfahren sie durch die Medien, aus zweiter Hand. Ihnen fehlen persönliche Beziehungen.“

Was also tun? Hilft ein Hausverbot in Freizeitheimen gegen die Schlägereien in der Disco? Welchen Einfluß haben Mädchen auf gewaltbereite Jungen? Wo zieht man die Grenzen des Tolerierbaren, wenn Jugendliche einen eigenen Raum haben wollen? Wo bleibt die persönliche Verantwortung, wenn grundsätzlich die Gesellschaft schuld sein soll? Auf keinen Fall, da waren sich die PädagogInnen einig, dürfe das Feld der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Jugendgewalt dem Polizeiknüppel überlassen werden. Sauter plädierte für echte Möglichkeiten der Partizipation in der Schule (“wirklich für das Leben lernen“) oder auch im Sport (“Körperlichkeit ausleben“).

Eine „Einmischungspädagogik“ forderte Andrea Müller vom Lidice-Haus. Individuelle Hilfen seien richtig, aber Jugendarbeit dürfe nicht im Sinne von „Regelt diese Gewalt mal“ benutzt werden. „Wir müssen den Jugendlichen Lebenssicherheiten geben, ihnen dabei helfen, eine eigene Identität zu entwickeln und sich in ihre Belange einzumischen. Jugendarbeit kann nicht als Problemlöser für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen funktionieren.“ In einer zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Lage lernen die Kinder ein Motto der Erwachsenenwelt: Nehmt Euch, was Ihr kriegen könnt — wenn nötig mit Gewalt. Müller dazu: „Jugendliche sind immer noch der Seismograph der Gesellschaft: Wenn wir nicht akzeptieren wollen, daß die Gewalt weiter zunimmt, müssen wir grundsätzlich umdenken.“ bpo