Lang, lang ist's her

■ Jugend, ein Kinomärchen: der Berlinale-Film „Waterland“ jetzt im Kino

Pubertät hat Konjunktur. Mutproben und Pickelgesichter, Familienleben und Trotzphase, erste Liebe auf verrostetem Bettgestell oder im Heu und jedenfalls heimlich – die diesjährige Berlinale bot die Erinnerung an die eigene Vergangenheit gleich dutzendweise. „Inge, April und Mai“ von Wolfgang Kohlhaase, „Le jeune Werther“ von Jacques Doillon, „The Cement Garden“ von Andrew Birkin, „Hammers over the Anvil“ und „Love in Limbo“ aus Australien oder „Waterland“ von Stephen Gyllenhaal – alles Versuche über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden.

Viele dieser Versuche scheitern an der Verdrängung. Wolfgang Kohlhaase erklärt 1945 zu seiner persönlichen Stunde Null und erweitert die Geschichtslüge um die autobiographische Variante: Sowenig wie in Deutschland alles von vorn begann, so wenig ist ein Vierzehnjähriger ein unbeschriebenes Blatt. Der Rückblick auf die Entdeckung des anderen Geschlechts verharmlost die Jugendliebe zu verklemmter Fummelei und vergißt, daß die Liebe damals nicht weniger groß, nicht weniger komisch und nicht weniger tragisch war wie die zwischen Erwachsenen. So bleibt die Erinnerung selbst verklemmt, indem sie sicheren Abstand wahrt: Lang, lang ist's her.

Die Mühe, der nachträglichen Erfindung der Kindheit zu mißtrauen und Pubertät bloßzulegen als persönlichen Wesenszug, der nicht nach einer bestimmten Phase überwunden ist, diese Mühe der Innenansicht machen sich lediglich Birkin und Doillon. Wobei sich Doillon auf eine französische Filmtradition beziehen kann, die so ehrlich ist, es nicht besser zu wissen als ihre jugendlichen Protagonisten, von Truffaut über Eustaches „Meine kleinen Geliebten“ bis zu Jacques Fanstens „Hand aufs Herz“.

Die andern bewahren die Fassung und den Überblick: Kein Zufall, daß die Filme gern in Landschaften schwelgen. Das Land, heißt es in „Waterland“ über die ostenglische Küstengegend, ist so flach, damit Gott uns alle sieht. Und der Regisseur, müßte man ergänzen.

Tom Crick ist Geschichtslehrer in Pittsburgh und rekonstruiert im Schulunterricht seine Jugend in England. Das heißt, er erzählt sie nicht nach, sondern entführt die Schüler buchstäblich in die Vergangenheit, karrt sie mit dem Pferdewagen in die Zeit seiner Großväter und führt die Kids durch seine Kindheit wie durch ein Museum. Überall stehen Schilder: Bitte nicht berühren.

In Gyllenhaals Verfilmung des gleichnamigen Romans von Graham Swift finden sich zunächst nur Klischees: goldgelbes Licht, die Szene im Heu, Strickwesten, Wuschelköpfe, die übliche Baumwollunterwäsche und das Baden im Fluß. Jugend: ein Kinomärchen. Aber Crick verspricht mehr, Skandal, Sex, sogar Mord. Es folgt die Geschichte der Ehe mit Mary, seiner ersten Liebe. Eine armselige Ehe.

Tom vergräbt sich in die pädagogische Arbeit, Mary schweigt und entführt Babys im Supermarkt, denn sie kann keine Kinder kriegen. „Waterland“ verspricht Aufklärung über das Mysterium dieses Unvermögens, rankt sich um den dunklen Fleck, das Trauma dieser Beziehung. Tom Crick enthüllt es bei seiner Entlassung vom Schuldienst, vor versammelter Aula. Es war eine Abtreibung. Rückblende und dramatisches Showdown bei der Engelmacherin. Der Inzest zwischen Mutter und Großvater, der Mord des schwachsinnigen Bruders – all das ist ein Klacks dagegen. Warum die Abtreibung Mary zum Psychokrüppel machte, erzählt „Waterland“ nicht. Irgendwie versteht sich das von selbst.

Tom und Mary werden gespielt von Jeremy Irons und Sinead Cusack, einem Ehepaar auch im richtigen Leben. Während der Dreharbeiten, verrät das Presseheft, wohnten sie getrennt, einer Bitte des Regisseurs Folge leistend. Als ob Schauspieler das Verhärmte anders nicht mimen könnten und als ob Jeremy Irons, diesmal mit Schnauzbart und Pfeife, in seinen letzten Filmen nicht ohnehin aussähe wie das Leid der Welt in Person. Das Rätselhafte seines Gesichts ist längst zur Maske erstarrt.

Am Ende kehren die beiden, typisch Mörder, an den Ort des Verbrechens zurück, in die Fens, jenes dem Meer abgetrotzte Land, dem immer wieder die Verschlammung droht. Symbolischer geht's nimmer: Die Zeitreise zurück in die Kindheit führt zwar in sumpfige Gegenden, aber der Morast wird niemals bedrohlich, und nie verliert Gyllenhaal den festen Boden unter den Füßen. Sein Film – eine Wattwanderung. Christiane Peitz

Stephen Gyllenhaal: „Waterland“, Drehbuch: Richard Prince, nach dem Roman von Graham Swift, mit Jeremy Irons, Sinead Cusack, Grant Warnock, Lena Headey, GB 1992, 95 Min.