Wie manche in Crown Heights einen Elefanten essen

Unfriedliche Existenz zwischen Schwarzen und Chassidim/ Jugendliche proben Zusammenleben  ■ Aus New York Andrea Böhm

Für Yudi Simon hätte jener Tag im August das Ende einer ganz normalen Jugend sein können. Dann würde er nur noch mit Messer und chemischer Keule auf die Straße gehen und mit seinen Freunden miese Witze über Schwarze reißen. „Aber das entspricht überhaupt nicht meinem Naturell“, sagt er und wippt aufgekratzt auf dem Wohnzimmerstuhl hin und her. „Ich bin eher ein freundlicher Typ.“ Mit der linken Hand gestikulierend, hält er in der rechten einen Football und simuliert lässig Weitwürfe in Richtung Bücherregal. Es ist fast Mitternacht, und Yudi hat den Tag zwischen seinen drei Ferienjobs aufgeteilt, zu deren Koordination er sich einen Telefonpieper zugelegt hat. Der schweigt um diese Zeit, Yudi nicht. Denn still herumzusitzen entspricht auch nicht seinem Naturell. Wenn Yudi nicht gerade selbst das Wort führt, laufen vor seinem geistigen Auge geniale Football- oder Basketballspielzüge ab, die er zur Veranschaulichung pantomimisch vorführt. Yudi Simon ist sechzehn Jahre alt, knapp einen Meter siebzig groß, hat das Selbstbewußtsein eines Michael Jordan, eine Vorliebe für Rapmusik und eine Jarmulke auf dem Kopf. Das Käppchen signalisiert in Crown Heights, wo Yudi wohnt, seine Zugehörigkeit zur jüdisch-chassidischen Gemeinde der Lubawitscher.

Rund 20.000 Lubawitscher leben in diesem Viertel Brooklyns Haus an Haus mit der jüngsten Generation von ImmigrantInnen – die meisten von ihnen Schwarze von den Westindischen Inseln. Das sieht auf den ersten Blick nach einer besonders pittoresken Facette der New Yorker Multikultur aus. Doch zu behaupten, daß sich die beiden Gruppen je übermäßig um ein harmonisches Zusammenleben bemüht hätten, käme niemandem in den Sinn – auch Yudi nicht. Andererseits empfand er diese typische New Yorker Form der unfreundlichen Koexistenz nie als besonders problematisch. Bis zum 19. August 1991. An diesem Abend starb der siebenjährige Gavin Cato, Sohn von Einwanderern aus Guyana, durch einen Autounfall – verschuldet durch einen Lubawitscher.

Aus einer empörten Menschenmenge heraus, die zudem durch das falsche Gerücht aufgeheizt wurde, eine Ambulanz der Lubawitscher hätte den verletzten schwarzen Kindern erste Hilfe verweigert, entwickelte sich, was viele Schwarze heute als riot, als Aufruhr, viele Lubawitscher als „Pogrom“ bezeichnen.

In den nächsten 72 Stunden verwandelte sich Crown Heights in ein Bürgerkriegsgebiet. Die Gewalt war zum Teil willkürlich, zum Teil sehr gezielt. Schwarze attackierten Wohnhäuser, deren Bewohner durch die Menora, den siebenarmigen Leuchter, im Fenster als Juden identifiziert wurden; sie zertrümmerten vor allem die Scheiben jüdischer Geschäfte. Zwischendurch ertönten immer wieder Rufe wie „Kill the Jews“ oder „Heil Hitler“. Lubawitscher, sofern sie nicht selbst mit Steinen und Knüppeln bewaffnet zum Gegenangriff ansetzten, wurden von Schwarzen durch die Straßen gejagt. Die konnten ihre Gegner unschwer an den schwarzen Hüten, schwarzen Anzügen und Schläfenlocken erkennen – und Yudi eben an seiner Jarmulke. Von den Eltern nach Ausbruch der Gewalt mit dem Verbot belegt, alleine das Haus zu verlassen, war Yudi mit seinem Vater unterwegs, als eine Gruppe Schwarzer sie einholte, beschimpfte und zusammenschlug. Als sich die Polizei nach drei Tagen endlich fähig zeigte, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen, waren Dutzende von Menschen verletzt, einer tot: Kurz nach Mitternacht war der 29jährige Student Yankel Rosenbaum an den Folgen von Messerstichen gestorben, die ihm mehrere schwarze Jugendliche beigebracht hatten.

Im Februar 1993 ist in Crown Heights auf den ersten Blick von Spannungen nichts zu spüren. Da stehen die Einfamilienhäuser mit genau bemessenen Vorgärten dicht an dicht. In den Läden auf der Kingston Avenue kaufen Weiße, jüdisch oder nichtjüdisch, und Schwarze gemeinsam ein und kommunizieren dabei so normal wie die Kunden in jedem anderen Supermarkt. In der städtischen Klinik am Empire Boulevard drängen sich Immigrantinnen aus Jamaika neben Chassidim, Russen und Latinos. Die Leiterin des Krankenhauses ist orthodoxe Jüdin, der Chefarzt russischer Immigrant, die Hebamme kommt aus der Karibik. Die Ecke President Street und Utica Avenue, an der Gavin Cato ums Leben kam, ziert heute ein Wandgemälde mit der Aufschrift „Partnership for peace and beauty“. Und an manchen Tagen bietet sich auf einem der öffentlichen Sportplätze ein Bild, das vor dem 19. August 1991 undenkbar gewesen wäre: Schwarze Teenager spielen Basketball mit jungen Lubawitschern. Yudi Simon ist in aller Regel dabei.

Doch der Schein der Aussöhnung trügt. Solche Zusammentreffen sind keine Selbstverständlichkeit, sondern sorgfältig geplante Veranstaltungen, bei denen zur Sicherheit auch schon mal ein Streifenwagen der Polizei in Sichtweite parkt. Organisatoren sind David Lazerson und Richard Green – beide Individualisten besonderer Güte und in ihren communities als notorische Tabubrecher von manchen geschätzt, von vielen verschrien. Green, ein 43jähriger afroamerikanischer Sozialarbeiter, der seit 1953 in Crown Heights lebt, arbeitet als Direktor eines Jugendprojekt und geht nachts als Streetworker auf die Straße. David Lazerson ist das, was Yudi Simon als einen „coolen Rabbi“ bezeichnen würde. Der 41jährige ist Direktor einer Yeshiva, einer jüdischen Schule, Buchautor und Blues- und Rapmusiker, beherrscht nicht nur Englisch, Hebräisch und Jiddisch, sondern auch Klavier, Schlagzeug und Banjo. Was immer an Klischees über ultraorthodoxe Juden existieren mag, auf David Lazerson paßt keines. „Stereotypen brechen ist mein Hobby“, sagt er mit jener zuvorkommenden Geste, mit der andere Leute ihre Visitenkarte überreichen.

Was er und Richard Green unmittelbar nach dem August 1991 unternommen haben, war ebenso banal wie radikal: erstmals trafen sich 40 chassidische und schwarze Jugendliche in einer High-School, um miteinander zu reden. Es begann, erzählt Lazerson, mit ziemlich unterkühlten Fragen über die äußere Erscheinung der jeweils anderen. Warum haben die Chassidim Bärte und diese albernen Käppis? Warum laufen Schwarze mit Rastalocken und diesen übergroßen Jeans herum? Die Konversation steigerte sich schließlich zu einem lautstarken unverblümten Austausch lang gepflegter Vorurteile, rassistischen und antisemitischen: „Warum kontrollieren Juden die Politik?“ „Warum sind die meisten Schwarzen kriminell?“ „Warum haben Juden immer Geld?“ „Warum hängen Schwarze immer faul vor dem Schnapsladen herum?“ Am Ende dieses Kontaktversuchs waren sowohl Lazerson wie Green ebenso erschüttert wie frappiert über die wechselseitige Ignoranz und Intoleranz zweier Gruppen, die seit Jahren in engster Nachbarschaft leben. Daß ihr Kommunikationsprojekt Erfolg haben würde, mochten beide nicht glauben – bis sie merkten, daß die Jugendlichen nach dem offiziellen Ende des ersten Treffens nicht auseinanderstoben, sondern sich plötzlich in gemischte Zweier- und Dreiergespräche vertieften. So begann vor anderthalb Jahren der das schwarz-chassidische Ko- Projekt „CURE“.

Richard Green und David Lazerson haben nie behauptet, Crown Heights mit Hilfe eines Basketballs von antisemitischen und rassistischen Vorurteilen befreien zu wollen. Einige kleinere und größere Aha-Erlebnisse wollten sie auslösen. Chassidim haben erstmals Schwarze kennengelernt, die entgegen festgefahrenen Stereotypen die Universität besuchen; Schwarze waren erstmals mit Juden konfrontiert, die entgegen den Klisches auf Sozialhilfe angewiesen sind. Wem solche Fortschritte zu mickrig erscheinen, dem antwortet Richard Green mit einem afrikanischen Sprichwort: „Einen Elefanten kann man nur essen, indem man einen Bissen nach dem anderen herunterschluckt.“

Mittlerweile gehört auch eine gemischte Graffitigruppe und eine Rapgruppe zu „Project CURE“. Leiter und Komponist: David Lazerson, genannt „Dr. Laz“, Sänger und Tänzer: Yudi Simon und TJ Moses, Yudis gleichaltriges Pendant aus der schwarzen Community. Yudi hatte sich nach den drei Tagen im August 1991 eigentlich geschworen, nie mehr ein Wort mit Schwarzen zu reden, bis ihn ein Freund zu „Project CURE“ mitnahm. Hätte er Lazerson nicht kennengelernt, sagt er, „säße ich heute beim Psychiater“. Oder, wie gesagt, mit dem Messer und der chemischen Keule in der Schule.

„Egal wieviel Basketballspiele stattfinden, egal wie oft Politiker an Toleranz appellieren“, schrieb vor kurzem die New Yorker Wochenzeitung Village Voice, „die soziale Struktur der Stadt wird die Feindschaft zwischen diesen beiden völlig entfremdeten Gruppen weiter vertiefen.“ Yudi hält solche Sätze für Schwarzmalerei von Intellektuellen, die weit weg in Manhattan sitzen. Zu befürchten ist allerdings, daß an dieser Analyse einiges stimmt. Zum einen steht New York kurz vor dem Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters. David Dinkins, Amtsinhaber und erster afroamerikanischer Bürgermeister der Stadt, war 1989 mit einer knappen Mehrheit gewählt worden, die aber auf einem ethnisch breiten Bündnis basierte – darunter auch viele Juden. Ihm diese Stimmen abzujagen ist erklärtes Ziel seines potentiellen republikanischen Gegenkandidaten Rudy Guiliani. Nichts eignet sich da besser, als den Konflikt in Crown Heights auszuschlachten.

Zum anderen sind ethnische Konflikte für New York sind zwar so normal wie die Immigration. Doch bislang wurden sie in der Regel dadurch gelöst, daß wenigstens eine der Konfliktparteien nach den Gesetzen des amerikanischen Traums und der sozialen Mobilität irgendwann den Schritt nach oben in die Suburbs schafft. Die Flucht der Weißen italienischer, irischer und jüdischer Herkunft aus Crown Heights in New Yorks Vorstädte begann in den sechziger Jahren, als die ersten Schwarzen einzogen. Auch die Lubawitscher, Überlebende des Holocaust aus Polen, die Anfang der vierziger Jahre in Brooklyn eingetroffen waren, erwogen eine Zeitlang, ihr Zentrum anderswo neu aufzubauen, bis ihr religiöses Oberhaupt Rabbi Menachem Schneerson 1969 anordnete, in Crown Heights zu bleiben.

Viele der Immigranten von den westindischen Inseln, in der sozialen und ökonomischen Hierarchie der Schwarzen höher angesiedelt als die Afroamerikaner, würden gerne wegziehen, doch der Zugang zum Wohnungsmarkt der Suburbs bleibt ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe verwehrt. Schwarz ist schwarz – egal ob aus Guyana oder Georgia. Beide Gruppen stecken in einem eng bemessenen Viertel fest, in dem billiger Wohnraum knapp wird und sich an einigen von Schwarzen bewohnten Blocks am Rande des Bezirks die typische Verelendung der Städte bemerkbar macht.

Diese Sackgasse – verbunden mit verbreiteten Vorurteilen – scheint eine Fortsetzung des Konflikts zu garantieren, zumal die Richard Greens und David Lazersons eher die Ausnahme denn die Regel darstellen. Vor allem die ultraorthodoxen Lubawitscher zeichnen sich durch eine Mischung aus Autarkie und Isolation aus – geprägt durch den festen Glauben, daß sich ihr religiöses Oberhaupt eines Tages als der „Moschiach“, der Messias, zu erkennen geben wird. Die Lubawitscher betreiben ihre eigenen Schulen, ihren eigenen Kranken- und Notfalldienst und ihre eigene Privatpolizei, die sich nach Ansicht vieler Schwarzer in Crown Heights längst das Gebaren einer Bürgerwehr zugelegt hat. In ihren Augen sind die Lubawitscher eine Gruppe, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Absonderlichkeit und ihrer vermeintlichen Macht von der Stadtverwaltung bevorzugt wird.

Manchen mag der Konflikt in Crown Heights als ein neuerlicher Tiefpunkt im Verhältnis zwischen Afroamerikanern und amerikanischen Juden erscheinen. Die politische Koalition zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung hat längst der Spaltpilz zerfressen – bedingt durch inhaltliche Streitpunkte in der Frage von Quotengesetzen und der Situation der Palästinenser in Israel sowie vor allem durch den wachsenden schwarzen Nationalismus Ende der sechziger Jahre. Nun haben weder die Chassidim noch die Einwanderer von den Westindischen Inseln irgend etwas mit dieser Epoche afroamerikanisch- jüdischer Beziehungen zu tun gehabt. Insofern ist der Konflikt in Crown Heights zwar keineswegs repräsentativ, doch hat er die Debatte über das Verhältnis zwischen Schwarzen und Juden wieder neu aufgeworfen – vor allen Dingen über einen wachsenden schwarzen Antisemitismus, wie er in seiner pseudowissenschaftlichen Form an manchen schwarzen Universitäten, sehr viel deutlicher aber in Texten prominenter schwarzer Rap-Gruppen präsent ist.

Angesichts dieser Dimension von Vorurteilen verwandelt sich der Elefant schnell in ein Mammut, zumal klar ist, daß die Stadtverwaltung auch nicht einen Cent zuviel übrig hat, um in solchen Vierteln neue Projekte und Jugendeinrichtungen zu finanzieren – von Arbeitsplätzen ganz zu schweigen. „Hätte es im Sommer 91 schon die paar tausend Sommerjobs gegeben, die die Regierung nach dem Aufruhr in Los Angeles finanziert hat“, sinniert Yudi, „dann wäre das vielleicht alles nicht passiert.“ Und hätte die Stadt mehr Geld, um ihre Krankenhäuser ordentlich auszustatten, dann wäre auch Yankel Rosenbaum noch am Leben. Denn der Student starb letztlich nicht an den Messerstichen, sondern weil man im Kings County Hospital einfach vergessen hatte, eine der inneren Blutungen zu stillen. „Das sind die Probleme“, sagt David Lazerson, „gegen die sich Schwarze und Chassidim hier gemeinsam wehren müßten, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen.“ Der Konjunktiv ändert in diesem Fall nichts an seinem notorischen Optimismus, daß eine solche Koalition sogar in Crown Heights möglich sein muß. Und jetzt soll ihn nur noch einer fragen, ob er zu diesen übriggebliebenen liberalen Spinnern der 60er Jahre gehört. Nein, wird er dann sagen: „Ich bin ein Pragmatiker der 90er.“