Blick zurück auf Nylonstrümpfe...

1å Gäbe es keine Zufälle, hätte ich am Samstag nachmittag nicht meine alten Psychologiebücher rausgekramt, weil mir niemand gesagt hätte, daß mein Sozialverhalten quasi nicht existiert. Natürlich landete ich in dem falschen Buch, aber als ich es zurück ins Regal stellte, hatte ich nicht nur ein erstklassiges Mantra gefunden (besser gesagt: wiedergefunden), sondern befand mich auch in einer Art Wiedererinnerungsschleuder, aus der ich so bald nicht mehr herauskommen sollte! Ich sah wieder das Bein vor mir, bei dessen Anblick ich das Wort „beinahe“ zum ersten Mal hörte. Ich war mit meiner Großmutter im Krämerladen von Frau Dreyer an der Alten Landstraße in Hummelsbüttel einholen, als ich stolperte und von meiner Omi im letzten Moment an der Hand erwischt und wieder hochgezogen wurde. „Beinahe!“ rief jemand ernst. Wohl begriff ich, daß dieses Wort bedeutete, etwas Unheilvolles hätte sich ereignen können. Vor allem aber blieben mir die Beine jener Frau im Gedächtnis, neben der ich zu Boden gegangen wäre — „beinahe“: die braunen Halbschuhe mit den leicht erhöhten Absätzen und die hautfarbenen Nylonstrümpfe. Die Frau und ihr besorgter Blick stießen mich ab, und bis auf den heutigen Tag habe ich gegen Nylonstrümpfe eine körperliche Abneigung.

Ich erinnere mich, wie es mich einige Jahre später quälte, immer anders auszusehen. Ich wollte ein Aussehen haben, auf das ich mich verlassen konnte. Stattdessen: Jeder Blick in den Spiegel eine weitere Überraschung! Fotos und Super-8-Filme von Urlaubsreisen bewirkten immer dieselben Zweifel: Bin ich so? Sehe ich so aus? Ist das nicht ziemlich schrecklich? Bin ich nicht ziemlich blöd? Ich mochte mich nicht besonders, wenn ich mich so sah, oder, noch schlimmer, einige Jahre später meine Stimme zum ersten Mal vom Tonband hörte.

Ich erinnere mich, in der Badewanne zu sitzen — keine Ahnung, in welchem Alter — und bei bestimmten Gedanken, die mir das Gefühl gaben, ein Stückchen außerhalb von mir selbst zu sein, so als hätte mein Gehirn seinen Platz nicht in, sondern direkt neben meinem Schädel, eine Art Schock, eine plötzliche kritische Blutdruckerhöhung im Gehirn oder irgendwas in der Art zu spüren, das mir Todesangst einflößte. In dem Moment dachte ich: Jetzt könntest du dich töten! Später ließ ich mir erzählen, es gäbe tatsächlich das Phänomen von durch bestimmte Gedanken ausgelösten tödlichen Gehirnschlägen.

Und jetzt? Jetzt sitze ich hier in meiner Dienstwohnung, ganz außer Atem, weil ich so gespannt bin, was morgen sein wird!

von Detlef Diederichsen