„Ich bin ein Nischologe“

■ Hermann Glaser sprach in Bremerhaven zur Renaissance des Menschen

Hoch über den Niederungen konkreter Politik — in der „Panorama-Etage“ von Bremerhavens Kreishandwerkerschaft im 16. Stock — malt der Nürnberger Kultursoziologe Hermann Glaser 130 geladenen Gästen aus Kultur und Handwerk ein Bild möglicherweise kommender Renaissance. Der Altstar unter Deutschlands Kulturdezernenten spannt einen Bogen von der platonischen Ideenlehre zur Chaostheorie und bekennt: „Ich bin ein Nischologe“.

Ohne die Nischen, in denen Denken und Fühlen Platz hätten, würde die für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Städte benötigte Innovations-Atmosphäre gar nicht entstehen. Hermann Glaser, der auf Einladung der lokalen Kreishandwerkerschaft und des Kulturvereins „Kunst&Nutzen“ in Bremerhaven weilt, ist ein hochgebildeter, charmanter Plauderer, der sein Publikum so sehr mit Allgemeinplätzen fesselt, daß aus dem Nachdenken über die Zukunft der Stadt im Jahr 2000 ein Diskurs über instrumentelle und „rhizomatische“, vernetzende Vernunft wird. Glaser plädiert für eine Stadt als „Netzwerk menschlicher, kultureller und sozialer Bezüge“.

Nichts gegen Sonntagsreden, verteidigt Glaser seinen zitatgespickten Überflug ins 21. Jahrhundert: „Das Wesen der Sonntagsrede muß nur sein, daß man sie am Werktag beachtet.“

Glaser ist skeptischer Optimist. Wenn nach der Chaos-Theorie der Flügelschlag eines Schmetterlings über China einen Hurrican über dem amerikanischen Kontinent hervorrufen könnte, dann könnten doch vielleicht „viele Flügelschläge der Kultur“ eine Renaissance des Menschen schaffen.

Bremerhavens Bürgermeister Heinz Brandt blieb skeptisch: „Ausgerechnet nach diesem Jahrhundert, das mit einem Genozid begonnen hat und mit einem Genozid endet, wollen Sie die Wiedergeburt des Menschen ankündigen?“ Glasers Entgegnung: Die Zunahme der Ziviltugenden, die neuen Formen der Kommunikation, die ökologischen und anderen Bewegungen seien Vorboten einer Zivilgesellschaft, die den rapiden Niveau-Verlust der Politik auffangen könnte. Das „könnte“ unterstreicht er: „Besser ein richtiger Konjunktiv als ein falscher Indikativ.“ Hans Happel