Augenringe und milde Gedanken

In der Wohnküche verplaudert: Ein Besuch bei der Sängerin Katrin Achinger. Neues von Ikaros, den Kastrierten und der Mondgöttin  ■ Von Anke Westphal

Es gibt Leute, die lachen sich über Katrin Achingers Soloplatte kaputt. „Nein, diese rollenden R's aber auch!“ Andere finden „Icaré“ einfach völlig way over the top, verstiegen. „Die Platte lebt nicht“, hauchte uns ein Herr vom Radio pastoral entgegen. Wieder andere feiern diese Scheibe, bedauern aber mit Grabesstimme den „kommerziellen Selbstmord“ der Achinger.

Das Seltsame ist: Trotzdem stehen Schreiber verschiedener Couleur neuerdings Schlange bei ihr, und nur an der Band mit dem Namen Kastrierte Philosophen, 1981 als Duo (bestehend aus Achinger und Matthias Arfmann) gegründet, kann das nicht liegen – auch wenn die Philosophen mit ihren summa summarum sechs LPs als nicht ganz unwichtig für die Entwicklung der neueren deutschen Popmusik angesehen werden dürfen.

So viele Rätsel – also auf nach Hamburg, wo uns Jesus liebt (die Lassie Singers liebt er noch mehr), am Hafen die Schiffe und die Fische schlafen und wir Philosophinnen sprechen lassen können. Eines sonnigen Donnerstags sitzen wir uns, gleich neben der Reeperbahn (natürlich!), in einer lieblich-karg und secondhand-möblierten Küche gegenüber, haben beide der harten Arbeit wegen am Vorabend schwer mit Wein entspannt und deswegen Augenringe und milde Gedanken über das Leben im allgemeinen. Durch die Wand hustet Matthias Arfmann, um den es hier mal überhaupt nicht geht.

Katrin Achinger ist – burschikose Regierungserklärung – „eigentlich freie Unternehmerin, meine eigene Produzentenfirma“. Die inzwischen 30jährige Sängerin, Musikerin, Technikerin und Produzentin „eigener Dinger“ (und Co-Produzentin anderer in Hamburg ansässiger Quersänger, die wir hier auf Geheiß nicht nennen dürfen), hat mit ihrem Solo-Debüt die antike Mythologie zu einem gnädigeren Ende gesponnen. Über 13 Stationen holt sie den der Sonne tödlich nahe gekommenen Ikaros auf die Erde zurück, um ihn auf einer Reise von den „Cold Waters“ zu den „Rivers of Life“ zu schicken.

Am Anfang war aber ein Buch. Irgendwann, als sie in Frankreich an der Ur-Ur-Fassung jenes Textes schrieb, den Lothar Gärtner von Strange Ways Records demnächst als gedruckte „Icaré“-Version produzieren will, fiel Achinger eine Kunstpostkarte mit dem Icarus von Henri Matisse in die Hand. Das Buch ist „eher 'ne Erzählung auf der Basis innerer Monologe, wo jede Menge Morgen und Abende, Sommer und Winter drin vorkommen“, eine unvergleichbar endgültigere Sache als die Songs, so Achinger.

Die Figur Icaré symbolisiert ihr nicht nur, wie ein Fanzine schrieb, den Junkie, der Trip um Trip das Erwachsenwerden aufschiebt, sondern jeden Menschen und seine Lande-Stadien zwischen Kindheit und Jugend.

Schwierige Materie am Morgen. Hätte Ikaros, dieser Trottel, nicht einfach seinem Vater, dessen Idee das Ganze ja war, hinterherfliegen und dessen Warnungen folgen können? Aber nicht doch. Kern des Ganzen bleibt eben das „Abhauen“, vor der Verantwortung, dem Alltag, der Gewöhnung, den Grenzen; und umgekehrt der Schrecken darüber, „keinen wirklichen Schritt in Richtung geträumte Utopie zu gehen, sondern nur Scheiße zu bauen“.

Das rundumschlagende Meret- Oppenheimer-Zitat im Booklet („Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muß sie sich nehmen“) klemmt da wohl ein bißchen. Oder doch nicht? Großes Fragezeichen. Der Mythos Icaré als in die Gegenwart übersetzter ewig flüchtender Outcast, der noch funktionieren kann, aber seelisch „abwesend ist“: „Wo niemand drin ist in seinem Körper.“

Puh! Das liegt nicht gerade auf der Hand und ist ebensowenig leicht handhabbar. Wir schlürfen Kaffee, knabbern am Brötchen und schnappen angestrengt nach Luft. Schwenk zur Musik. Das Booklet betont zwar den Verzicht auf Samplings und Gitarren, puristisch sei „Icaré“ deswegen noch lange nicht. „Ha, die Öko-Platte, das gäbe eine tolle Promotion- Kampagne“ – Achinger amüsiert sich wie Bolle. Mit der Flight Crew ohne Vorlage von Noten eingespielt, klingt dise Musik ebenso minimalistisch seltsam wie dilettantisch schön.

„Zerbrechlich? Au ja, ein schönes Wort!“ Cello, Violinen, Bass, Schlagzeug und Marimba humpeln Achingers Gesang manchmal mit dem Charme des Unperfekten hinterher (wirklich schön und dabei ein ganz klein wenig komisch: „Home“) oder sind schon ein paar Takte weiter als die Frau am Mikro.

Die Platte lebt eben doch – von einer Art archaischer Romantik. Wer will, kann sogar ein paar Songs unter Folk und Blues archivieren. Ihren Gesang als priesterinnenhaft zu verstehen, die Worte Kult und Prophetie, die für unsereins so weit hergeholt nicht sind, lehnt sie aber entgeistert ab. „Was? Was ist das denn? Nee! Da laß ich mich nicht drauf ein. Das hättet ihr wohl gern, Konzentrate und Schlagwörter!“

Mit dem Begriff Pathos ist das anders. Sie blättert mißtrauisch im Fremdwörterbuch: „... leidenschaftlich-bewegter Ausdruck ... Leidenschaftlich ist sowieso gut!“ wird triumphiert. „Icaré“ ist für Achinger eine Platte über die Angst, darüber, „Türen zuzumachen, wo keine sind“. Wenn Leute ihre Musik zum Totlachen finden, geht sie das nichts an, sie sollen wenigstens richtig zuhören. „Ich hab die Platte selbst noch nicht verstanden“, grübelt sie, gleitet durch den Raum wie eine Tänzerin und lacht tatsächlich tief und heiser. Warum haben wir dieses unglaubliche Timbre nur für ein Kunstprodukt gehalten? Die zweite tiefgestimmte Teutonin nach Nico und ähnliches Blabla...

Es wird zunehmend langweiliger, Katrin Achinger mit Nico in Verbindung zu bringen. Nun gut, dreimal hat sie, 1985, mit den Kastrierten Philosophen als Vorband der „Mondgöttin“ gespielt; „Nerves“, das 1988 erschienene Philosophen-Album, ist Nico gewidmet. Aber die Frau sei nicht mehr und weniger als ein Vor-Bild in puncto „selbständige Künstlerin“, eine Ermutigung. Vor allem der Fixerinnen-Mythos kotzt Achinger an. Dann wieder erzählt sie, wie ihr vor der Veröffentlichung von Icaré träumte, daß sie mit Nico über eine Wiese tanzt.

Puh. Ihr Verständnis von Freiheit ist es, ohne Phantasterei, aber mit Phantasie im Alltag gelassen anwesend zu sein, sagt sie. Wenn viel Geld da ist, will Achinger „Icaré“ mit Sinfonieorchester aufführen. Sie mache eben gern, was andere schockiert, und wenn's denn „hyper“ ist – bitte sehr.

Als nächstes möchte sie ein Kind kriegen. Ein „Oh Gott!“ erwartend, wirft sie uns vorsichtshalber schon mal einen strengen Blick zu. Aber wir finden ihren Plan ja gar nicht so doof. Icaré gehört ihr nicht mehr. Irgendwann hat sie ihm „Guten Flug!“ hinterhergebrüllt.

Katrin Achinger: „Icaré“ (Strange Ways Records, Hamburg)