Afghanistan ist längst ein geteiltes Land

■ Die Regionalmächte Saudi-Arabien, Iran und Pakistan sind um Waffenstillstand bemüht/ Doch die Friedenschancen in dem kriegszerstörten Land sind gering

Berlin (taz) – Die neuen Kämpfe zwischen den paschtunischen Rebellen Hekmatyars und den Truppen des tadschikischen Verteidigungsministers Ahmad Schah Masud in den vergangenen Wochen forderten mehr als tausend Menschenleben und viertausend Verwundete. Als Vorwand für die neuen Gefechte mußte die Präsidentschaft des tadschikischen Theologen Burhannuddin Rabbani herhalten. Die neue Regierung, so Hekmatyar, sei unislamisch und müsse bekämpft werden.

Die umstrittene Präsidentenwahl fand Ende Dezember vergangenen Jahres statt. Der sogenannte „Schura-e Hal O Aqd“, der „Rat der maßgebenden Leute“, bestehend aus 1.600 Delegierten, ernannte Rabbani für zwei Jahre zum Staatsoberhaupt und wählte aus seiner Mitte ein 250köpfiges Parlament. Der 58jährige Rabbani, wegen seiner politischen Wendigkeit Bughalaman (Chamäleon) genannt, war bis zu seiner Wahl zum regulären Staatsoberhaupt fünf Monate lang provisorischer Regierungschef. Er habe, so seine Rivalen, mit Geldern aus der Staatskasse die Stimmen gekauft. Repräsentativ für alle Mudschaheddingruppen war das Wahlgremium wohl kaum, geschweige denn für alle Völker Afghanistans.

Rabbani ist das erste tadschikische Staatsoberhaupt in der neueren Geschichte Afghanistans, sieht man von dem kurzen Regiment des kommunistischen Staatschefs Babrak Karmel ab, der, wie Rabbani, ein Farsiwan, ein „Persischsprachiger“, war. Die kriegerischen Paschtunen hatten stets die Herrschaft am Hindukusch inne. Als Vertreter der tadschikischen Minderheit steht die Macht des gemäßigten Islamisten Rabbani auf wackligen Beinen. Selbst sein Bereich Kabul wird zur Hälfte von Kämpfern der schiitischen „Wahdat“ kontrolliert, die zwar regierungsbeteiligt sind, ihn aber als Präsidenten ablehnen.

Ob mit den neuen Vereinbarungen von Islamabad Frieden am Hindukusch einkehrt, muß man abwarten. Bis jetzt ist kein afghanischer Politiker, Paschtune oder Tadschike, in Sicht, der imstande wäre, das aus einem Dutzend Ethnien bestehende afghanische Volk zu einigen. Der Dschihad, der Heilige Krieg, hat die Emanzipation der völkischen und religiösen Minderheiten von der paschtunischen Vorherrschaft in die Wege geleitet. Bis zu den Zähnen bewaffnet und ihrer Wehrhaftigkeit bewußt, sind die Tadschiken, Usbeken oder Hizara nicht mehr gewillt, die Paschtunen als Herrenvolk hinzunehmen.

Die Gefahr des Zerfalls des afghanischen Staates in eine Reihe ethnisch gefärbter „Fürstentümer“ ist in greifbare Nähe gerückt. Die gefürchtete „Libanisierung“ am Hindukusch ist längst Wirklichkeit. Praktisch ist Afghanistan schon jetzt ein geteiltes Land. Im Panschirtal und einigen anderen nördlichen und westlichen Regionen herrschen die tadschikischen Kommandanten. Doch viele von ihnen dünken sich als souveräne Fürsten, wie etwa Ismael Khan, Herr über die volkreiche Provinz Herat. „Die Hauptstadt“, sagte der bärtige Kommandant, von dem es heißt, er verfüge über einen reich besetzten Harem, „ist dort,wo meine Männer sich befinden.“

In einigen von Paschtunen bevölkerten südlichen und östlichen Provinzen haben Hekmatyar und andere paschtunische Rivalen Rabbanis das Sagen. Im Norden, wo die turksprachigen Minderheiten angesiedelt sind, ist General Dustam der unangefochtene Herrscher. Der Usbekenführer läßt sich mit „Präsident“ anreden.

Sorge bereitet die düstere Zukunft des afghanischen Berglandes vor allem den regionalen Mächten, die nun, nach den Beschlüssen von Islamabad, für die Einhaltung des Waffenstillstands zuständig sind. Die Pakistanis etwa verfolgen angstvoll, daß der Strom der nach Afghanistan heimkehrenden Flüchtlinge fast versickert ist, nachdem im letzten Jahr der Exodus verheißungsvoll begonnen hatte. Aus dem Ausland kommt kaum noch Unterstützung für die Flüchtlinge, von der Islamabad, wie in den vergangenen zehn Jahren, profitieren könnte. Auch könnte die Gefahr eines paschtunischen Teilstaats im Osten des Berglands dem Separatismus unter den pakistanischen Patanen, wie die Paschtunen südlich des Khyberpasses genannt werden, Vorschub leisten. So hat die Regierung in Islamabad Mitte Januar dem Friedensstörer Hekmatyar, der neuerdings auf die Karte des paschtunischen Nationalismus setzt, das Betreten pakistanischen Bodens untersagt. Jahrelang war der radikale Islamist Favorit des pakistanischen Militärs und des Geheimdienstes gewesen. Auch der westliche Nachbar, der islamische Gottesstaat Iran, hat im Interesse der regionalen Stabilität kein Interesse an der Teilung Afghanistans. Für den dritten Schirmherrn der afghanischen Mudschaheddin, nämlich das saudische Königreich, ist der Erhalt des afghanischen Staates ein außenpolitisches Gebot ersten Ranges. Afghanistan gilt als Brücke der Araber nach Zentralasien.

Eine halbwegs realistische politische Lösung des afghanischen Konflikts weiß niemand. Gehofft wird auf die Einsichtigkeit der afghanischen Führer. Der neueste Versuch, den Bürgerkrieg zu beenden, hat allerdings eine neue Qualität. Die regionalen Mächte können, indem sie auf ihre jeweiligen Verbündeten Druck ausüben, einstweilen die Kämpfe im Zaum halten. Doch in einem zerrissenen Land, wo Not und Hunger herrschen und wo jeder Halbwüchsige bewaffnet ist, hat der Frieden nur eine geringe Chance. Achmed Taheri