Die Reise zum totalen Erlebnis

■ Ausschnitt aus einem Vortrag von William E. Kurtz, Präsident der "Association for Strategic Accidents" (ASA), auf dem internationalen ASA-Meeting vom 28. - 31.1.93

Meine sehr verehrten Damen und Herren — ich möchte heute zu Ihnen über Lebensstil sprechen, über das totale Erlebnis und über eine Branche, die uns heute – mehr denn je – dieses totale Erlebnis bieten könnte: der Tourismus.

Es bedarf wohl keiner hellseherischen Kräfte, um zu behaupten, daß nach dem Wirtschaftswachstum der 60er und 70er Jahre und der Suche nach Information in den 80er Jahren wir in den 90er Jahren auf eine Risikogesellschaft zusteuern. Diese Risikogesellschaft steht in kausalen Zusammenhang mit dem flächendeckendsten Krieg, den wir Menschen führen, seit wir den aufrechten Gang gelernt haben: Ich meine den Krieg gegen die ökologische Katastrophe. Entscheidend für unseren Sieg oder unsere Niederlage wird die Art sein, in der wir mit unserem Sicherheitstrieb umgehen. Der Sicherheitstrieb besteht darin, Neues zu Gewohntem, Unbekanntes zu Bekanntem zu machen. Wir alle sind dem „Sicherheits-Risiko-Gesetz“ unterworfen. Dieses Gesetz lautet: je größer das Sicherheitsgefühl, desto größer das objektive Risiko. Jemand, der sich sicherer fühlt als andere, muß, um Unsicherheit zu spüren, ein größeres Risiko eingehen. Wer ein sicheres Auto hat, fährt schneller. Umgekehrt suchen wir das Risiko, um Sicherheit zu gewinnen. Dabei wird deutlich, daß wir den evolutionären Prozeß des Sicherheitsgewinnes an der Exploration unseres Lebensraumes pervertiert haben. Wir haben uns Sicherheit im Geist verschafft und Lebenswelt vernichtet, wir haben Kultur vergöttert und Natur zerstört. Die Konsequenzen daraus sind eindeutig: Wir müssen mit dem Sicherheitstrieb anders umgehen als bisher; zum Überleben brauchen wir die Sicherheit der Natur und zur Befriedigung des Sicherheitstriebes brauchen wir das Risiko der Kultur.

Die ASA hat schon damit begonnen, diesen Gedanken auf dem Gebiet des „Product Placement“ praktisch umzusetzen. In unseren sämtlichen Werbekampagnen für die unterschiedlichsten Produkte rufen wir den Verbraucher dazu auf, mehr Mut zum Risiko zu zeigen. Denn, wie wir alle wissen, führt die Bewältigung eines Risikos zu hohem Lustgewinn, und Lust ist es, die der Verbraucher eigentlich konsumieren will. Wir können dem Verbraucher das bieten, wonach er seit dem Beginn der Werbung verzweifelt gesucht hat, das Bindeglied zwischen Produkt und assoziativer Traumwelt: das totale Erlebnis.

Die Attraktivität des totalen Erlebnisses liegt darin, daß man einem Erlebnis den sogenannten Ernstfallcharakter gibt. Die Verwandlung von Unsicherheit in Sicherheit bedeutet ja, unter Umständen, eine Überlebensaufgabe. Wenn wir also den evolutionären Ernstfall herstellen, enthält dieser den höchsten Grand an Spannung und, wenn man diese bewältigt, lustvolle Entspannung. Kurz gesagt, die Bewältigung eines Risikos läßt eine Handlung zum erträumten totalen Erlebnis werden.

Dieses Erleben beschränkt sich natürlich nicht nur auf das Risiko bei der Konsumierung von Produkten, sondern bezieht sich darüber hinaus auf ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, die man als „Lebensstil“ bezeichnet. Mit Lebensstil meine ich die Art und Weise, wie man sich sein Leben gestaltet, sowohl materiell als auch geistig. Wir orientieren uns dabei an gesellschaftlichen Trends. Diese Trends werden zumeist durch Subkulturen geschaffen wie z. B. momentan „Hip-Hop“ oder Anfang der 80er Jahre in New York „Graffiti“ und durch ihre Stars wie „Public Enemy“ oder Keith Haring gesellschaftsfähig gemacht. Ein Trend bietet die Möglichkeit, eigene Initiativen und Identifikationen zu entwickeln. Diese Identifikation ist der erste Schritt zum totalen Erlebnis. In den 90ern wollen wir nicht länger von Stars träumen – nein, jetzt wollen wir selber Stars sein. Wie Andy Warhol es seinerzeit schon prophezeite: „Jeder kann für 15 Minuten Star sein.“ Diese 15 Minuten werden in den 90ern nicht mehr ausreichen.Wir wollen eine neue Dimension von Lebensstil, wir wollen das totale Erlebnis!

Wo wird uns dieser Lebensstil, dieser Hauch vom totalen Erlebnis angeboten, ja, sogar versprochen? Sie ist zur Zeit der größte Arbeitgeber der Welt: die Tourismusindustrie.

Um die ökonomische Bedeutung des Tourismus zu erläutern, möchte ich einen kroatischen Soldaten zitieren. Dieser Soldat sagte, nachdem die Kroaten die Maslenica-Brücke bei Zadar von den Serben zurückerobert hatten: „Diese Brücke ist die Lebensader von Kroatien, sie macht den Tourismus in unserem Land erst überlebensfähig.“

Hundertzwanzig Serben und zehn Kroaten starben für den Tourismus.

Was aber macht die Branche mit ihrem Versprechen vom totalen Erlebnis? Sie löst sie nicht ein. Der Tourist scheint dies noch zu akzeptieren, aber ich warne die selbstzufriedenen Reiseveranstalter: nicht mehr lange. Der Tourist wird langsam satt.

Wir alle kennen das Ritual, ein oder zwei Mal im Jahr ins Reisebüro zu gehen und nach Studium eines Kataloges eine Reise zu buchen. Wir kaufen dann etwas im voraus, wovon wir nicht sicher sind, ob es unseren Erwartungen entspricht. Dieses Risiko reichte bisher noch aus, um einen Urlaub zum Erlebnis zu machen. Mittlerweile jedoch wissen wir, was uns erwartet. Es fehlen neue Reize. Es macht sich die Freizeit-Krankheit der 90er Jahre breit: Langeweile. Langeweile entsteht aus der Entbehrung von Unsicherheit. Das Verlangen nach Neuem wird unerträglich und schließlich ist uns jedes Risiko recht, wir wollen die Befriedigung des totalen Erlebnisses.

Um dieses Verhalten zu belegen, möchte ich zwei Beispiele aus einer langen Reihe nennen. Man hat herausgefunden, daß in einem Vergnügungspark, in dem es einen Unfall in einer Achterbahn gab, diese nach ihrer Wiedereröffnung populärer als vorher wurde. Weiterhin gibt es unter Touristen eine hohe Nachfrage danach, sich in einem Wildpark aufzuhalten, in dem es keine Möglichkeit gibt, von professionellen Aufsehern im Notfall Hilfe zu erhalten.

Wir müssen uns klarmachen, daß das Angebot nicht mehr die Nachfrage deckt. Und wie reagiert die Tourismusbranche? Sie dreht Däumchen. Sie reagiert nicht auf solche Anzeichen und läuft damit Gefahr, sich in eine tiefe Krise hineinzumanövrieren, wenn sie nicht umschwenkt und ihr Ohr den Wünschen der Kunden öffnet. Der Tourist verlangt das totale Erlebnis, das er nur im Risikotourismus finden kan.

Die ASA, ein Muß für die Tourismusbranche, sieht vorerst zwei konkrete Perspektiven: erstens die Strategie des „gesuchten Unfalls“ und zweitens die des „konstruierten Unfalls“. Bei beiden ist der Unfall das konkrete Ergebnis, das zum totalen Erlebnis – oder auch zum Verhängnis – führen kann. Die Möglichkeit des Scheiterns dürfen wir nicht ausschließen, denn das Gefühl des totalen Erlebnisses ist direkt davon abhängig.

Die Strategie des „gesuchten Unfalls“ besteht darin, touristische Angebote zu vermarkten, bei denen die Chance auf einen Unfall durch die gesellschaftlichen Bedingungen des Zielortes unverhältnismäßig groß ist. Politisch gesehen hieße das, die Orte anzuvisieren, wo es gegenwärtig ein instabiles System gibt. Oder es werden – wenn man das Problem geographisch angeht – Gebiete mit schwierigen Überlebensbedingungen ausgewählt. Der Tourist kann vor Ort selbst entscheiden, ob er loszieht, um den Unfall zu suchen oder nicht. Zur Zeit wären, um das zu verdeutlichen, einige Baracken in Sarajewo durchaus vorstellbar. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick absurd, aber wir dürfen nicht vergessen, daß z. B. Journalisten sich in Sarajewo tagtäglich auf die Suche nach Unfällen begeben. Es handelt sich hierbei um Menschen, die sehr wohl Bescheid wissen um die Risiken, die sie eingehen. Trotzdem treibt es sie immer wieder in Krisengebiete und das nicht nur wegen des Geldes, sondern weil sie das totale Erlebnis suchen!

Die Strategie des „konstruierten Unfalls“ ist etwas komplizierter. Hier müssen wir das Ziel anstreben, touristische Angebote zu vermarkten, die eine Unfall garantieren. Organisatorisch bedeutet das, daß wir Unfallteams einsetzen, die dafür sorgen, daß dem Touristen vor Ort etwas zustößt. Ein Unfall wird konstruiert, um dem Konsumenten die Möglichkeit zu geben, zum totalen Erlebnis zu gelangen. So etwas könnte z. B. in Form eines Club-Reiseangebotes stattfinden. Wir müssen überlegen, ob diese zukünftige Form des Reisens Spielregeln bedarf, das hieße gestaffelte Angebote für Anfänger, Fortgeschrittene und Expertern zu installieren. Das totale Erlebnis hängt schließlich auch vom subjektiven Niveau der Risikobereitschaft ab.

Also, der Risikotourismus ist machbar, denn: Unfälle bringen uns zu einer neuen Dimension von Lebensstil, sie lassen Träume wahr werden, die man für Geld kaufen kann.

Die 90er Jahre haben schon begonnen. Dem totalen Erlebnis und seiner Vermarktung durch Risikotourismus gehören die Zukunft.

Nachdruck aus „Der Katolg ist da“, herausgegeben vom „Arbeitskreis für touristische Perspektiven.“

Übersetzung ASA-Berlin