Bildung

■ betr.: "Über allen Gipfeln ist Nebel", taz vom 23.2.93

betr.: „Über allen Gipfeln ist Nebel“, taz vom 23.2.93

Licht in den Nebel könnte die Einsicht bringen, daß es keine zentral organisierte Lösung geben kann, die Bewegung und Leben in die Bildungslandschaft bringt. Vielmehr müssen Wege gefunden werden, wie eine möglichst große Vielfalt im Schul- und Hochschulbereich entstehen kann. Will man dabei vermeiden, daß neben dem staatlich vorgehaltenen, aber schlechten Schulsystem ein privates, nur exklusiv zugängliches System entsteht, muß man vor allem begreifen, daß zwischen diesen beiden Polen ein selbstverwaltetes, öffentliches Schulwesen denkbar ist: die freie Schule und Hochschule.

Seit Jahren schon liegen Vorschläge vor, wie ein solches Schulwesen organisiert werden könnte – zuerst formuliert von Vertretern der Waldorfschulen, mittlerweile aktualisiert und gemeinsam von den Vertretern unterschiedlichster freier Schulen auf Europa-Ebene herausgegeben. Das „European Forum for Freedom in Education (E/F/F/E)“ hat in seiner „Erklärung zum Menschenrecht auf Bildungsfreiheit“ (Helsinki, 30.5.91) dazu einige grundlegende Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Zu beziehen ist diese Erklärung, neben anderer, weiterführender Literatur, in einer Schriftenreihe des E/F/F/E, deutsches Sekretariat: Annener Berg 15, W-5810 Witten-Annen.

Es wird höchste Zeit, daß die Schulen, nachdem sie zuerst aus den Händen der Kirchen herausgelöst wurden, nun auch dem Staat abgenommen und in die Lebenswirklichkeit hereingeholt werden. Es ist in Deutschland noch immer ein Angriff auf eine heilige Kuh, die Planwirtschaft im Bildungswesen grundsätzlich in Frage zu stellen. Warum sollen sich Schulen und Hochschulen nicht in freier Konkurrenz entwickeln, solange sie sich auf dem Boden der Verfassung bewegen? Die Chancengleichheit kann doch nicht darin bestehen, daß alle über einen Leisten gezogen werden, sondern einzig darin, daß nicht schon von vorneherein ein Schulsystem allen anderen gegenüber privilegierte Bedingungen hat (wie heute das Staatsschulwesen). [...] Henning Kullak-Ublick,

Handewitt

Der Auftrieb begann schon beim vorletzten Auftrieb – denn: was ist aus der Oberstufenreform von 1972 und ihren Folgen geworden? Es werden nicht nur Köpfe gesucht! Der Leistungssport der Fachexperten ergriff selbst die Grundstufe. Die Mütter wurden Hilfslehrer, bis sie selbst reißaus nahmen oder Opfer dieses Spiels wurden und fortan „von außen“ ihre Ansprüche an die Lehrerschaft steigerten. Nun sind beide am Ende. Die Erwachsenen, einschließlich die Hochschullehrer, kapitulieren, Lehrlinge und Studenten brechen ab, irren herum, schlucken Tabletten oder Aufwendigeres. Was fehlt, ist die Klarheit des Denkens.

Hat man je von einer Nuß erwartet, daß sie als einjähriger Sproß Früchte trägt? Hat man je geglaubt, Treibmittel könnten reifes Korn ersetzen? Wenn ja, dann sollte gefolgert werden, daß die meisten Menschen gar nicht mehr auf dem Boden der Tatsachen leben. Der Realitätsverlust begann damals, als man den genialen Chemiker Justus von Liebig nicht ausreden ließ. Er war der erste Technikfolgenforscher auf dem Lebensgebiet, den Stoffwechsel eingeschlossen.

Im Klartext: Den Entwicklungsgedanken dürfen die Schulplaner nicht mehr länger den Psychotherapeuten überlassen. Es geht nicht um vermehrten Aufbau von Computerschaltungen, die auf immer geringerem Raum immer größere Input-Kapazitäten aufnehmen können, sondern um den „Werkstoff“ Seele. Die Biographien unserer herausragenden Geistesgrößen zeigen: Alle Entwicklungsstufen haben ihre Zeit und ihre Lebensbedingungen. Wird die menschliche Seele und ihre Eigenart alterstufengerecht ernst genommen, gehen Schreiben, Lesen und Rechnen von der Hand, werden Begreifen, Verständnis und Forschertrieb und damit der Standort Bundesrepublik wieder attraktiv.

Es sei denn, es regnete schon Plastik vom Himmel und würde eine neue Spezies hervorbringen, bei der keine Kosmetik mehr anschlägt. Vielleicht folgerichtig und für einzelne noch umkehrwirksam. Gisela Canal, Ulm