Laienprediger etc.
: Pro bono, contra malum

■ Narziß wird siebzig – eine Hommage an Walter Jens

Wollen wir wirklich? Wollen wir uns einreihen in die Schlange der Schmeichler und für Walter Jens ein Geburtstagsständchen singen, zum Siebzigsten das Allerbeste? Nein, wir wollen nicht. Zu makaber erscheinen uns rückblickend seine Auftrittsgeilheit und sein pathetisches, zitierwütiges Gebrabbel, das manche in diesem Lande für Rhetorik halten. Zu peinlich ist uns diese senile Erlösungssehnsucht, dieser ganze christliche Kinderkram, mit dem er uns seit Jahren berieselt. Ach Gott, dieser Jens! So stöhnt es nun in allen Redaktionen. Irgendwas muß man doch schreiben über ihn, den Unvermeidlichen. Hätte er es bei einer Nebenrolle als Professorendarsteller in einem Woody-Allen- Film belassen, alles wäre in Butter. So aber muß man ihn zur Kenntnis nehmen. Schreiben wir also:

Walter Jens beherrscht die hohe Kunst, das Selbstverständliche mit großer Geste vorzutragen. Daß die Menschheit als solche gegen Notstandsgesetze, Berufsverbote und Nachrüstung ist und daß der Sozialismus eigentlich eine prima Sache sein könnte, dies wußte Jens stets mit Verve darzulegen; die Analyse der Widersprüche überließ er anderen. Ein Mahner und Rufer halt, der seinen Nächsten fast so sehr liebt wie sich selbst. Wenn er an der Uni wieder mal über Fontane psalmodierte, mußten wir erschüttert den Hörsaal wechseln. Mal ist er Graecist, dann wieder Latinist, dann wieder dramatischer Dichter oder Fußballfan, „homme de lettres“ (FAZ), „Zeitzeuge“ und Übersetzer – kurz: In wechselnden Verkleidungen trägt er zu unserer Bildung bei, wiederholt mit Inbrunst dieselben Meinungen und illustriert sie durch die Interpretation seiner Lieblingsdichter; und immer hat er mich an einen etwas plüschigen Eiskunstläufer erinnert, der uns den dreifachen Axel verspricht und dann einen ganz kleinen Hopser macht. Aber danach verbeugt er sich formvollendet und sucht eilends das nächste Stadion auf, wo man seinen Hopser noch nicht kennt.

Denn, das muß man sagen, der Mann ist fleißig! Eine Art Balzac der Sekundärliteratur, der zu jedem noch so entfernten Thema, von dem er peripher etwas versteht, entweder ein Buch oder mindestens einen Essay geschrieben (oder schreiben lassen) hat. Nur: Wer von uns würde je auf die Idee kommen, ein Buch von Walter Jens von vorn bis hinten durchzulesen? Nein, er ist eher ein Live-Act, ein Laienprediger für linke Kinderärzte und Versicherungsvertreter, ein Billy Graham für den akademischen Mittelbau. Gestatten: Herr und Frau Küng, Herr und Frau Jens – das ist Tübingen. Da braucht man das. In Berlin ist er nicht ganz so angesehen, da ist der böse Heiner MÜller, der sich am kriegsberauschten Ernst Jünger berauscht– und das ist natürlich i bäh, in Jensens Kreisen tut man so was nicht. Da vertreibt man sich die Zeit mit creative writing und ist sozial engagiert.

Also: Walter Jens ist, wie er ist. Da führt kein Weg dran vorbei. Links, sprachgewaltig, epochal. Alle wissen das. Und die Wochenschrift Die Zeit hat dankenswerterweise zum Wiegenfeste das entsprechende Foto veröffentlicht: „der junge Gelehrte vor dem Spiegel, sich selbst fotografierend“. Narziß als Weltenrichter – das Volk klatscht höflichen Applaus. Christian Gampert