Zeit der Bilderschrift

Derridas „Die Wahrheit in der Malerei“ auf deutsch  ■ Von Hans-Werner Zerrahn

Ein weit über vierhundertseitiges Buch zur „Wahrheit in der Malerei“ könnte leicht in Verdacht geraten, den traditionellen Besitzanspruch der akademischen Ästhetik an die Kunst zu wiederholen. Wäre es nicht von Jacques Derrida. Dieser Text, 1978 auf französisch, bald danach wenigstens in teilweiser Übersetzung auf englisch publiziert, erscheint nach 15 Jahren tatsächlich auf deutsch. Es handelt sich um ein Buch, das seit seinem Erscheinen im französisch- und englischsprachigen Raum die Diskussionen über Kunst – bis hin zu Lyotards Konzept vom Ereignis des Erhabenen in der modernen Malerei beeinflußt hat. Der Text Derridas verdient es, insistierend – auch mit dem Wörterbuch und der französischen Ausgabe daneben – gelesen zu werden.

„Die Wahrheit in der Malerei“: Auf deutsch klingt das leicht wie eine philosophische Enthüllungsstory. „La vérité en peinture“, das ist aber auch Wahrheit aus dem Stoff der Malerei oder eine Wahrheit, die sich irgendwie bei weiß Gott welcher Affäre unauflöslich mit der Malerei verflochten und verheddert hat. Vier ineinander verzahnte Abschnitte dieses Buches sind – der Reihe nach – dem ästhetischen Denken Kants („Parergon“), gezeichneten Repliken des Malers Valerio Adami auf Derridas Buch „Glas“ („+R“), einer Serie des Künstlers Gérard Titus-Carmel („Kartuschen“) sowie einer Polemik zwischen Heidegger und dem Kunsthistoriker Meyer Schapiro über ein Bild Van Goghs („Restitutionen“) gewidmet. Die Texte sind Reflexionen über das Machen von Kunst; aber sie demonstrieren auch ihr eigenes Gemachtsein.

Mit Ausschnittsrändern, Einrückungen, Datierungen und vorgeschalteten Gedankenstrichen umrahmt Derrida gleichsam Fragmente und längere Passagen, aus denen sich sein Buch zusammensetzt. Nicht der Stil kontinuierlicher Abhandlungen und einer architektonischen Rhetorik der Beweisführung gibt hier den Leitfaden für den Zugang zur Kunst; nichts wird entschlüsselt. Eine serielle, spielerische Logik offener Schlüsse durchwaltet vielmehr die Konstellationen, zu denen die verschiedenen verwendeten Textsorten, Fetzen aus Vortrags- und Seminarpapieren, Tagebuchaufzeichnungen u.a. sich vernetzen.

Die Bilder dieses Buches sind selten bloße Illustrationen; sie intervenieren in der Sprache, stellen Fragen, die keineswegs immer beantwortet werden. Überhaupt wirft die graphische Behandlung, der die Schriftsprache hier unterzogen wird, das Problem der Hierarchie zwischen Text und Bild auf. Auch die Schrift wendet sich ans Auge, gibt zu sehen und trägt die Signaturen eines Handwerks. Sie illustriert Kunst mindestens ebensosehr, wie sie durch Kunst illustriert wird.

Die Komposition des ganzen Buches folgt der Bahn eines solchen Umschlagens vermeintlich stabiler Beziehungen und Wahrheiten: Am Anfang, in den Passagen über Kant, rekonstruiert Derrida die Ableitung des Kunstschönen aus einer Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und des ästhetischen Urteils. Die Aisthesis wird jedoch ihrerseits schon bei Kant einem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe unterworfen. In Kants Ästhetik – so zeigt Derrida – herrscht ein Gesetz des Abtrennens und Begrenzens. Es zeichnet noch einer definierten und beschnittenen Kunst den Weg vor: „Die Gewalt der Einrahmung vervielfältigt sich. Sie schließt zunächst die Theorie der Ästhetik in eine Theorie des Schönen ein, diese in eine Theorie des Geschmacks und die Theorie des Geschmacks in eine Theorie des Urteils.“ Fazit: Was man sieht, darüber kann man sich auch vernünftig verständigen.

Am Ende jedoch, wenn Derrida bei Heidegger und Schapiro anlangt, entwirft er uns den Streit zweier konträrer Phantasmen über ein Bild. Noch dazu über eines, dessen Gegenstand doch jeder identifizieren zu können glaubt: einfach „Ein paar Schuhe“, gemalt von Van Gogh. Aber wem oder was gehören sie nun an? Einer Bäuerin, wie Heidegger in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes“ von 1935 unterstellt? Oder dem ruhelosen, proletarisierten Städter Van Gogh, wie der in die USA emigrierte Kunsthistoriker Meyer Schapiro gegen Heidegger einwendete? Welchem Hintergrund schreibt man ein solches Bild zu? Einer politisch verdächtigen neuheidnischen Blubo-Mythologie oder einer Ideologie städtischen Nomadentums? Sind solche Zuschreibungen und Lesarten überhaupt notwendig? Derrida entflieht dem Clinch, indem er den Schnürbändern nachgeht und das „Un-Paare“, das Disparate im Bild selbst aufspürt. Aber am Ende wissen wir: Was man sicher zu sehen meint, ist eine unkommunizierbare Projektion. Auch dies eine Wahrheit der Kunst.

Die Ränder zwischen der Sprache und dem Bild verschieben sich ständig, will uns dieses Buch zu verstehen geben. Zur theoretischen Funktion der Ästhetik gehört es nun, diese Bewegung zu verorten. Denn diese Funktion rettet das diskursive Denken vor jenem Auseinanderfallen in diskontinuierliche „Pikto-Ideo-Phonogramme“, die Derrida etwa in den Zeichnungen Adamis findet und seinem eigenen Schreiben einräumt. In Bildern wird der Theologismus der einen Wahrheit dementiert; sie bahnen ein Geflecht von Spuren, die sich supplementär zueinander verhalten. Sie sind „Partituren“, in denen „die Notwendigkeit, mit mehreren Händen und inmehr als einem Notensystem zu spielen“ zum Ausdruck kommt.

Gut, es „gibt“ Kunst; aber übertüncht diese Gegebenheit, wenn sie uns scheinbar selbstverständlich von Kunst-„Werken“ reden läßt, nicht den Riß oder Abgrund, den diese Gabe für unser Denken bereithält? Am Beispiel Kants zeigt Derrida, daß die ästhetische Rede vom Schönen immer eine anthropomorphe, subjektförmige Wahrheit zum Ausdruck bringt. Mit einem Wort Foucaults könnte man sie als eine „Technik des Selbst“ bezeichnen. Das Begriffslose, das „Ohne des reinen Einschnitts“, wie Derrida das Kunstschöne charakterisiert, wird bei Kant und manchmal noch bei Heidegger in eine regulierbare Abbildordnung übersetzt und damit dem Herrschaftsbereich der Subjektivität zugespielt. Dieses Begrifflose wird dem Begrifflichen daher immer ähneln.

Anders als Lyotard beschreibt Derrida die komplizierte Beziehung zwischen den Begriffen vom Schönen und vom Erhabenen. Das Erhabene stellt nicht nur eine Vorbereitung der modernen Kunst dar (so ja Lyotard). Es sei selbst bei Kant schon ein Supplement: Es übersetze die Zäsur des Schönen in eine philosophische Lehre vom Konflikt der Wahrnehmung; es enthalte den Versuch einer Wiedereinschreibung der a-systematischen Kraft, die auch das Schöne erzeugt, in das System der Ästhetik. Noch im Erhabenen wirkt eine Opferlogik fort; dessen „verstümmelnde und opfernde Gewalt organisiert die Enteignung im Innern eines Kalküls; und der Austausch, der daraus folgt, ist gerade das Gesetz des Erhabenen wie das Erhabene des Gesetzes. Die Einbildungskraft siegt über das, was sie verliert“. Derridas Argumentation ist erheblich schwieriger als die Lyotards; sie ist aber auch nicht so reduktionistisch.

Noch einige Worte über die Herausgabe des Bandes im Wiener Passagen-Verlag. Der hat sich gewiß darum verdient gemacht, die deutsche Kommunikationsgemeinschaft daran zu erinnern, daß die deutsche Sprache sich aus Idiomen, Transformationen und eben – wie schon Benjamin wußte – aus sie verfremdenden Übersetzungen speist. Treue zur Sprache ist kein Eid auf Allgemeinverständlichkeit. Wenn es aber um die Publikation von Texten mit einem so strengen Sprachethos wie dem Derridas geht, dann bedarf es akribischer Editionsarbeit durch den Verlag. Hat es sie in diesem Fall gegeben? Es macht nicht den Eindruck. Druckfehler und in die Zeile geschobene Trennstriche zuhauf; der Band ist einfach schlecht lektoriert. Verschwärzte, nicht auf Kunstdruckpapier gedruckte Illustrationen (bei einem Buchpreis von fast 100 DM!) machen die oft als Kommentar figurierenden Bilder wieder zur nicht mal schönen Nebensache.

Jacques Derrida: „Die Wahrheit in der Malerei“, übersetzt von Michael Wetzel; Passagen Verlag, Wien 1992, 465 S., 98 DM