Malcolms Leben war Rhetorik

Was bei Spike Lee fehlt. Eine Betrachtung zu „Malcom X“ aus den USA.  ■  Von Geoffrey Stokes

Am Ende von „Do the Right Thing“, den viele Leute für Spike Lees gelungensten Film halten, ist die Eruption der Gewalt bereits vorüber. Eine gespenstische Ruhe, so ruhig, daß man den Ladenbesitzer das zerbrochene Glas zusammenfegen hört, hat sich über ein Straßenviertel gelegt, in dem sonst hektisches Treiben herrschte. Der lang unterdrückte Zorn ist – für den Moment – verraucht.

Aber dieser Moment bedeutet weder Frieden noch die Lösung des Konflikts. Die Frage, was the right thing war, und ob Lees Protagonist, Mookie, das Richtige tat, als er eine Mülltonne durch das Ladenfenster seines italo-amerikanischen Chefs warf, bleibt unbeantwortet. Lee betont die Offenheit dieser Frage, indem er zum Schluß zwei Zitate über die schwarze Leinwand laufen läßt: eins vom Reverend Martin Luther King, Jr., und das andere von Malcolm X.

Diese manichäische Vision, dieses „entweder/oder“ der beiden ermordeten Schwarzen, die wohl noch heute die ethnische Krise meiner Nation beschreibt, taucht nicht erst bei Spike Lee auf. Sie hat ihre Wurzeln in der Geschichte. Die beiden setzten sich bewußt und unbewußt ständig voneinander ab: Malcolm, der speziell in seinen mittleren Jahren nur Verachtung für Kings integrationistischen Traum hatte; und King, der seine Herausforderung an das weiße Amerika mit der unterschwellig angedeuteten Drohung verstärkte, „wenn Ihr nicht mich kriegt, kriegt Ihr ihn.“

Aber in einem Land, dessen Geschichte vom Rassismus geprägt ist, wurde die „entweder/oder“-Vision noch von Schuldzuweisungen verstärkt. Ja, es gab Amerikaner – viele davon fettbäuchige Südstaaten-Sheriffs, die ihre Polizeihunde auf Bürgerrechts-Demonstranten hetzten – die dem Glauben anhingen, daß „diese Typen alle gleich“ seien. Aber es gab noch mehr Leute, die die Bewegung teilen wollten – in Gut und Böse, verantwortlich und ruchlos, friedlich und gewalttätig. Malcolm war vielleicht für viele schwarze Amerikaner ein Held, aber für die meisten Weißen war er ein Sündenbock.

Deshalb war es ein bißchen enttäuschend, zu sehen, daß Lee nun – nachdem er „Do the Right Thing“ so offen und zwiespältig hatte enden lassen – sich auf das „entweder/oder“ eingelassen hatte. Zum mindesten kann man „Malcolm X“ als Lees ernsthaften Versuch ansehen, das richtige zu tun, indem er Malcolm „vermenschlicht“, ent- dämonisiert, und dabei die manichäische Vision unhaltbar erscheinen läßt. Ob ihm das geglückt ist, darüber wurde und wird heftig debattiert. Während konservative Autoren sein Projekt gescheitert sahen, fanden die linken Kritiker seinen Film eher respektabel als begeisternd. An den Kinokassen war das Urteil ebenfalls gemischt; obwohl „Malcolm X“ keineswegs ein Desaster für Warner Brothers war, hat er doch nicht das gezeigt, was man in Hollywood „Beine“ nennt. Obwohl er gut anlief (2,4 Millionen Dollar am ersten Tag, 65 Prozent mehr als Oliver Stones ebenso ehrgeiziger „JFK“), reichte das Publikum nicht für einen Blockbuster. Das mag an seiner Länge liegen oder für Weiße auch an dem vornehmlich schwarzen Publikum. Beides könnte durch den Verkauf des Videos oder einen Erfolg beim europäischen Publikum kompensiert werden.

Ich selbst gehöre auch zu denjenigen, deren Reaktion auf den Film gemischt war. Ich war begeistert von Denzil Washingtons Malcolm, von Spike Lees Shorty und speziell von Al Freemans lebendigem und exzentrischem Elijah Muhammad und dem Lee-Ensemble, dessen einzige Schwachstelle Angela Bassets lustlose Darstellung der Betty Shabazz, Malcolms Frau, ist.

Der Anfang des Films ist einer der eindrucksvollsten Momente in der Geschichte des amerikanischen Films. Zu Aufnahmen einer amerikanischen Flagge sieht man Ausschnitte des erschreckenden Videos, auf dem zu sehen ist, wie Rodney King von Polizisten aus Los Angeles zusammengeschlagen wird. Langsam fängt die Flagge Feuer, ein Stück hier, ein Stück da, bis die Form eines X übrigbleibt. Das ist so brillant wie die Musikvideos und Nike-Werbespots, für die Spike Lee zu Recht berühmt ist. Bedauerlicherweise hält der Rest nicht, was dieser Anfang verspricht. Vielleicht ist das aber auch gar nicht möglich. Die Schwierigkeit bestand darin, daß Malcolm zwar viel gesagt, aber wenig getan hat. Damit will ich keine Kritik an einem Mann üben, den ich sehr bewundere; schon gar nicht als jemand, der selbst mit Worten arbeitet und ihre Macht respektiert. Gerade Malcolms Reden haben die Bedingungen für einen Dialog formuliert, der durch die stillen Widerstandsbewegungen aus den Kirchen im Süden in Gang gesetzt worden war. Dennoch: Verglichen mit dem Leben des Mannes, den Lee ihn am Ende von „Do the Right Thing“ gegenüberstellt, war Malcolms Leben Rhetorik. Es gibt darin weder ein historisches noch ein filmisches Äquivalent zu den Wasserwerfern und Polizeihunden, die den Bürgerrechtlern auf ihrem Marsch durch Selma aufwarteten; keine Szene im Gefängnis von Birmingham; kein Photo wie das von Martin Luther King 1958, auf dem sein Arm brutal von einem weißen Polizisten auf den Rücken gedreht wird, während ein anderer seine Schulter festhält, seine Krawatte verrutscht und seine Augen aufgerissen mit einer Mischung aus Angst und Siegesgewißheit. Es gibt darin nicht einen Moment, der sich so in das amerikanische Bewußtsein eingegraben hat wie Kings „I have a dream“ von 1963, und dem Marsch, der dem vorausgegangen war.

Andererseits könnte man einwenden, daß gerade dies Lee einen Freiraum gelassen hat; er konnte eine Fläche ausfüllen, die noch nicht so präsent in der allgemeinen Erinnerung eingegraben ist, wie die berühmten Attentatsopfer King und die Kennedys. Obwohl immer neu aufgelegt, war „Die Autobiographie von Malcolm X“ seit Jahren nicht mehr auf den Bestsellerlisten (nach dem Filmstart war es die Nummer 1 der New York Times). Für ein Publikum in Millionenhöhe war Malcolm X Terra incognita. Bei der Beschreibung hauptsächlich des privaten Lebens ist Lee selten langweilig und oft inspiriert, aber er hat die Karte nur unvollständig ausgefüllt.

Merkwürdigerweise ist die erste Stunde des Films – die Zeit vor dem X, Malcolms Weg vom vernachlässigten Kind bis zum Ghetto-Gauner Detroit Red – die lebendigste. Aufbauend auf einem längst vergessenen Drehbuch von James Baldwin versetzt Lee Malcolm, einen cleveren aber fast aufdringlich spießigen Teenager vom ländlichen Mississippi, ins Boston der 40er Jahre. Im Schlepptau von Shorty, dem quirligen Street Hustler (gespielt von Lee im perlgrauen Zoot Suit), tanzt er den Jitterbug in Ballettformation, lernt Drogen nehmen und Frauen verführen. Er lernt schnell und eifrig, und diese Szenen – mit einem wunderbar evokativen Soundtrack von Lionel Hampton, Count Basie, Chick Webb und anderen, die selbst ein Stück schwarzer Musikgeschichte sind – gehen sehr schnell vorbei.

Vielleicht sind diese Episoden zu lustig. Wir sehen und genießen Malcolm als schneidig-gewieften Burschen, aber niemals so, wie er sich in seiner Autobiographie empfand: als „verworfen“, als „Parasit“ bei Weißen und Schwarzen gleichermaßen. Weil Lee uns viel Glanz und wenig geistiges Elend liefert, verliert Malcolms Bekehrung im Gefängnis zur Lehre Elijah Muhammads an Gewicht.

Das wiederholt sich in der zweiten großen Bekehrungsszene des Films, als Malcolm nach Jahren rigider Rechtgläubigkeit, die in einer erleuchtenden Reise nach Mekka kulminiert, mit der Bewegung Elijah Muhammads bricht und eine eigene Lehre begründet, großzügiger und offener. Auch dies verliert an Bedeutung, weil der Film unkritisch akzeptiert, was vor diesem Wandel geschah. Tatsächlich wird unsere Sicht verschleiert, und wir können überhaupt nicht mehr erkennen, was vielleicht Malcolms wichtigste Schöpfung, sein bleibendes Erbe war: er selbst.

Malcolm predigte nämlich nicht nur den Wandel, er lebte ihn. Jesse Jackson hat darauf hingewiesen, daß seine „ethisch konservative Botschaft Selbstdisziplin und Entwicklung des eigenen Selbst als Quelle der Stärke“ zum Inhalt hat. Unsere Inspiration finden wir ebenso wie in seinen Worten auch im Modell seines Lebens – von Malcolm Little zu Malcolm X zu El-Bajj Malik El-Shabazz, vom eingeknasteten Drogendealer zum potentiellen Führer einer Welt.

Das soll nicht bedeuten, die Worte seien unwichtig. Der Film tanzt zur Musik seiner Worte; seine Originalreden liefern die stärksten Texte, und wenn Lee sie durch Fernsehbilder terrorisierter Bürgerrechtsdemonstranten verstärkt, wird der Schmerz in ihrem Schrei nach Gerechtigkeit fast unerträglich. Aber so, wie Lee über die weniger glanzvollen Teile von Malcolms Gangsterleben hinweggeht, behandelt er auch die pure Exzentrizität von Elijah Muhammads Lehren nur ganz nebenbei (unter anderem die Vorstellung, die Weißen seien im Wortsinn eine Nation von Teufeln, die ein wahnsinniger Wissenschaftler namens Yacub vor etwa 6.600 Jahren genetisch aus dem schwarzen Urmenschen herausgezüchtet habe). Indem er die Tiefe von Malcolms Bekehrungen herunterspielt, geht Lee das Risiko ein, sowohl die Kontinuität als auch die Komplexitäten dieses Lebens zu verschleiern. Der Theologieprofessor James Cone, Autor von „Martin and Malcolm and America“, schrieb dazu: „Menschen, die die frühen Jahre seines Lebens als schwarzer Nationalist wahrnehmen, erkennen nicht immer die Veränderungen. Und wer die Veränderungen wahrnimmt, erkennt nicht die Kontinuität.“

Teilweise liegt der Grund darin, daß Malcolm durch seinen Tod – mit den Worten von Marion Riggs – zu „dem sprichwörtlichen unfertigen Text“ wurde, und unter anderem war Lees Film in Amerika deshalb so umstritten, weil es die Natur dieses unfertigen Textes vielen konkurrierenden Gruppen und Individuen erlaubte, die Leerstellen auszufüllen.

Die Frage, wem Malcolms Erbe „gehört“ – und um welches Erbe es sich überhaupt handelt –, erhielt durch Lees Film neues Gewicht. Abgesehen von den üblichen Einwänden von rechts, gegen den Mann wie gegen den Film, argu

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mentieren viele Angehörige der Black Community, darunter auch Julius Lester – ein ehemals militanter Universitätsprofessor aus Massachusetts, der im Lauf der Jahre zunehmend konservativer wurde –, zu Malcolms Erbe gehöre auch „schwarzer Rassismus, Antisemitismus und die Überzeugung von der Minderwertigkeit der Frauen“, was Lee durchweg vernachlässigt. Aber, wie Malcolm seinem Publikum im Film zuruft: „Vierhundert Jahre lang habt ihr auf den Knien gelebt. Nun ist es Zeit, euch zu erheben“ –, lehrte er auch „die schwarzen Menschen, daß sie sich selbst als afrikanisches Volk begreifen sollten, kulturell und politisch“. Darin war er buchstäblich unamerikanisch. Es ist wichtig, daß dieser Sohn eines christlichen Geistlichen nicht nach einem Besuch Roms oder Bethlehems, sondern nach einer Mekka-Reise zu einer liebevolleren Vision fand.

Auch wenn seine implizite Kritik an der „Nation des Islam“ mit Höflichkeit abgepolstert wird, ist Lee bei der Darstellung von Malcolms zunehmend global orientierter Vision sehr gut. Zwar wird es vielleicht niemals so ganz klar, worum es in seiner Abwendung von Elijah Muhammad geht, aber es wird deutlich, daß sie wichtig ist. Rechte Kommentatoren wie Charles Krauthammer von der Washington Post haben jedoch darauf hingewiesen, daß Lee sich mehr für die mittleren als für die letzten Jahre interessiert und sie „in einem Katalog lauter guter Werke, von Aufstieg und Erleuchtung entfaltet“. Als Beispiel erwähnt er eine Szene während Malcolms am stärksten separatistischer Phase, als „eine junge blonde Studentin Malcolm öffentlich fragt, was sie tun könne, um zu helfen. – ,Nichts‘, antwortet er.“ Obwohl der Film nach dieser Szene unmittelbar fortschreitet und sie als Beispiel der Stärke zu begreifen scheint, zitiert Krauthammer die Autobiographie zum Beleg, daß Malcolm später „seine Äußerung bedauerte. Er hätte das Mädchen gern wiedergetroffen und ihr eine großzügigere Antwort gegeben. Diese Überlegung, dieses Bedauern kommt im Film nicht vor.“

In seinem Bemühen, etwas zu beweisen, übersieht Krauthammer allerdings, daß die Autobiographie selbst ein Konstrukt ist. Die Frage zum Beispiel, ob Malcolms Vater – wie in Buch und Film gleichermaßen behauptet – von seinem Mörder vor eine Straßenbahn gestoßen wurde oder vielmehr betrunken auf die Gleise stolperte, ist durch den Film erneut aufgeworfen worden. Auch andere Fälle von Übertreibung und Überbewertung wurden angezweifelt, und das sollte niemanden überraschen, denn wie der Film zeigt, vermittelte Malcolm spin, bevor dieser Ausdruck überhaupt erfunden wurde. Wie es sein Biograph Peter Godman ausdrückte: „Er war ein Mediengenie. Er wußte, wie man im Fernsehen mit Ton umgeht, bevor die meisten überhaupt wußten, daß das möglich war.“

Die Schwarzweiß-Sequenzen des Films, mit denen die Zeitungsfotos simuliert werden sollen, stellen Malcolm explizit als Medienfigur vor, und obwohl Lee seine Bemerkung: „Hatte ich ein gutes Argument gefunden, dann hängte ich einen Köder aus, damit ich es im Fernsehen anbringen konnte“ nicht ausschlachtet, liegt in dieser bewußten Benutzung der Medien womöglich ein weiterer Grund dafür, daß der „reale“ Malcolm so schwer zu fassen ist. Aber 1965, während er sich auf eine Rede im Audubon Ballroom in Harlem vorbereitete, bekam ihn jemand zu fassen (der Film bezieht sich hier mit seinen Anklängen an Junior Walkers „Shotgun“ bewußt und hervorragend auf die Tanzhallenszenen zu Beginn). Anscheinend kamen die Mörder aus der „Nation of Islam“, aber Lee hegt wie viele andere den Verdacht, Agenten der US-Regierung hätten mit den tatsächlichen Mördern zusammengearbeitet. Das zumindest wird noch auf längere Zeit ein Geheimnis bleiben; immerhin lohnt es sich festzuhalten, daß ein größerer US- Fernsehsender über 50.000 Seiten FBI-Dokumente durchforschte, als er im letzten Dezember einen Dokumentarfilm über Malcolm vorbereitete. Die Behörde überwachte Malcolm sehr genau während des größten Teils seines öffentlichen Lebens, und der Sender berichtete, in den Regierungsakten seien mindestens 46.000 weitere Seiten verblieben, wo es etwa zwei Jahre dauern würde, sie aufzuarbeiten. Vielleicht werden wir in einigen Jahren einige Antworten mehr besitzen; bis dahin haben wir eine provozierende Bewegung, ein umstrittenes Erbe und ein ehrenvolles Leben.

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Meino Büning und Mariam Niroumand