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■ ÖkolumneChemie-Alltag Von Manuel Kiper

Seveso ist überall. Griesheim ist hierzulande. Die kleine Explosion von 1976 erschütterte die Welt. Chloraknebilder weckten Mitgefühl. Ein Ultragift namens Dioxin wurde Bestandteil des allgemeinen Vokabulars und politikbestimmend. Ortho-Nitroanisol, die gelbe Giftwolke vom 22. Februar im Frankfurter Stadtteil Griesheim, war kein Ultragift. Was da aus den Kesseln der Hoechst AG abgeblasen wurde, war die Normalität bundesdeutscher Chemieindustrie.

Das beschönigende Reden über Störfälle kaschiert die Unfälle. Als im indischen Bhopal 1985 die Giftwolke ein Leichentuch über die umliegenden Slums zog, warnte das Umweltbundesamt in einem internen Papier vor den Gefahren bundesdeut-

Foto: taz-Archiv

scher Chemiewerke. Ob bei Hoechst, Bayer oder Schering: die Wohnbebauung reicht bis ans Werktor. Nur höchste Sicherheitsmaßnahmen könnten große Unglücke verhindern. Den Schwarzen November 1986, als im Sandoz-Werk Schweizerhalle bei Basel ein Pestizidlager abbrannte und die Giftfracht im Löschwasser den Rhein runterschwappte, konterte die Politik mit einer Störfallverordnung. Diese mauserte sich unter Töpfers Schirmherrschaft sogar zu einer Störfallvorsorgeverordnung. Unfälle wie die Explosion von 1925 sollen damit ausgeschlossen werden, als eine Ammoniumnitrat-Explosion bei BASF in Oppau 561 Todesopfer forderte.

Als vor zwei Jahren in der Bayer-Lackfabrik in Uerdingen die Fabrik in Flammen aufging, war der Personenschaden gering. Der Gesamtschaden für Bayer aber dürfte Milliardenhöhe erreicht haben. In der Sparte war Bayer nicht mehr lieferfähig und damit langfristig raus aus dem Geschäft. Leider waren die nach Störfallverordnung vorgesehenen Sicherheitsanalysen noch nicht vorgenommen worden, der Schwachpunkt wäre sonst vorsorgend entdeckt worden. Leider verweigerte auch Hoechst eine vom Ministerium vorgesehene Sicherheitsüberprüfung. Jetzt werden Straßen, Spielplätze, Gärten und Dächer dekontaminiert. Die Schwanheimer Vogelinsel, eben noch Naturschutzgebiet, wandert nebst Leitplanken in die Abfallcontainer. Investitionen in Sicherheit lohnen sich. Warum ist das nur immer erst hinterher klar?

Was seit 1991 als Frankfurter Chemiedialog sich so hoffnungsvoll als gesellschaftlicher Diskurs entfaltete, versiegte in der Hoechster Desinformation. Die Warnung der Bevölkerung blieb aus. Die gesetzlich vorgeschriebene Information der Behörden fand nicht statt. Selbst Töpfer beschwerte sich.

Tatsächlich dosierte Hoechst die Information homöopathisch. Aber was weiß der Konzern denn tatsächlich über Chemie? Weltweit sind heute über 10 Millionen Chemikalien im Labor hergestellt bzw. identifiziert worden. Täglich kommen 1.000 neue Substanzen hinzu. 100.116 Chemikalien zählt das EG-Altstoffinventar. Diese Substanzen dürfen ungeprüft in der EG vermarktet werden. Ein Programm der Altstoffprüfung ist sogar schon angelaufen. 4.500 Stoffe wurden ausgeguckt, die mit mehr als 10 Tonnen jährlich in Deutschland vermarktet werden. 512 Stoffe mit mehr als 1.000 Tonnen Jahresumsatz sollen jetzt in den nächsten Jahren systematisch begutachtet werden. Das dauert. Wenn in zehn Jahren die Fakten auf dem Tisch liegen, dann wissen wir allerdings immer noch nicht, wie gefährlich so eine Giftgaswolke aus Griesheim ist. Chemikaliencocktails entziehen sich der Bewertung.

Die Angst aber bleibt. Dennoch: Auch zuviel Angst vor Krebs ist ungesund. Die gelbe Frankfurter Klebe sollte uns deshalb nicht kopfscheu werden lassen. Der Länderausschuß für Immissionsschutz hat viel unangenehmere Nachricht. Alltäglich. Das umweltbedingte Lungenkrebsrisiko ohne gelbe Klebe ist im städtischen Bereich fünfmal so hoch wie im ländlichen. Schuld an der Misere: an erster Stelle Dieselrußpartikel. An zweiter Stelle: Benzol. Die falsche Lehre aus Griesheim also wäre: alles evakuieren und noch mehr Verkehr produzieren. Die Frage aber stellt sich, ob nicht mehr Rezession der Chemieindustrie und unserem Lebensstil guttäte? Das Vertrauen in die chemische Industrie dürfte auf jeden Fall wieder dort gelandet sein, wo es 1986 war: am Nullpunkt. Eine günstige Gelegenheit, das schon vorhandene gesetzliche Instrumentarium gegen den klein gewordenen Riesen durchzusetzen.

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