Ohne Vignette ist alles Banane

Für die Vignette probte die Unionsfraktion den Aufstand gegen den Kanzler/ Wachsende Nervosität bei den Christdemokraten/ Biedenkopf empfiehlt indirekt den Kanzlersturz  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Eine Banane, das ist die neue Bonner Maßeinheit für den Rang, den eine europäische Streitfrage zu haben hat. Sah die FDP am Donnerstag die Frage der Vignette „mindestens“ im Rang der EG- Debatten um die Bananeneinfuhr, ging der CDU-Abgeordnete Udo Haschke gestern ein ganzes Stück weiter. „Hier geht es um mehr als um Bananen“, erklärte Haschke bündig, als er erläutern sollte, warum die CDU/CSU-Fraktion am Donnerstag abend den Koalitionskompromiß über die Verkehrsabgaben abgelehnt habe.

Der Kanzler und Finanzminister Theo Waigel hatten die Sitzung bereits verlassen, als das Fußvolk zu murren begann. „Nachverhandeln“, verlangte die Fraktion und zielte damit einerseits auf die vignettenkritische FDP, vor allem aber auf die EG-Verkehrsminister.

An denen werde die Vignette sowieso scheitern – dieser begründeten Prognose der Freidemokraten mochten die Unionsabgeordneten einfach nicht glauben. Sie verwiesen auf Verkehrsminister Günther Krause. Der sei „optimistisch“, sich in Brüssel durchsetzen zu können.

Realitätsverlust? Purer Fundamentalismus? Haschke hat als Chef der thüringischen Landesgruppe seiner Fraktion die Interessen der Ostdeutschen im Blick. Wer nur 60 Prozent des Tariflohns verdiene, den träfe eine um 13 Pfennig höhere Mineralölsteuer weit härter als einen Baden-Württemberger, dessen Gehalt bei „180 Prozent“ liege.

Viele westdeutsche Fraktionskollegen ärgerten sich ganz prinzipiell, daß der Koalitionsbeschluß ausländische Lastwagen ungeschoren lasse, das heute schon höher belastete deutsche Fuhrgewerbe dagegen erneut mit Preiserhöhungen drücke.

Die Ausländer zur Kasse zu bitten, das sei „ein ganz konkretes nationales Anliegen“, meinte der niedersächsische Abgeordnete Klaus- Jürgen Hedrich. Geschehe nichts mit dem Transitverkehr, meinte ein anderer, „sind in eineinhalb Jahren die deutschen Autobahnen dicht“.

Deshalb, so Hascke, habe man sich auf die eigenen Beschlüsse „besonnen“ und noch einmal für die Vignette plädiert. Denn „der Souverän“, das sei die Fraktion. Von einem Aufstand gegen Kanzler Kohl, so wurde gestern allgemein beteuert, könne nicht die Rede sein. Daß sich dieser Eindruck trotzdem aufdrängte, kam nicht von ungefähr. Seit sich die Umfrageergebnisse für die Union fast schon wöchentlich verschlechtern, fürchten viele Parlamentarier um ihr Mandat. Ein Wahlergebnis von nur noch 35 Prozent kann einige Dutzend Abgeordnete ihren Arbeitsplatz kosten. Im Osten droht außerdem vielen der Verlust ihrer Direktmandate.

„Es scheinen mir sehr viele nervös zu sein“, hat Hedrich festgestellt. Flackernde Blicke richten sich besonders auf zwei Termine in nächster Zukunft: Die hessische Kommunalwahl am Sonntag könnte ein Menetekel für das Wahljahr 1994 werden. Die Bund- Länder-Verhandlungen über den Solidarpakt, die am Donnerstag und Freitag in Bonn stattfinden, drohen ebenfalls eine Gefahr für Kohl zu werden: dann, wenn sie scheitern.

Vor allem für die ostdeutschen Abgeordneten hängt am Solidarpakt einiges. Sie wollen es nicht zulassen, daß die Verabschiedung des Nachtragshaushalts verzögert wird. Die neuen Länder bräuchten die zusätzlichen Mittel. Ein anderer Unionsabgeordneter warnt hinter vorgehaltener Hand: Gebe es ein Desaster in Hessen und scheiterten außerdem die Verhandlungen über den Solidarpakt, „möchte ich nicht wissen, was dann passiert“. Dann sei wirklich alles denkbar, bis zum Ruf nach der großen Koalition.

Und was wird aus Helmut Kohl? Dessen Intimfeind, der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, lieferte dieser Tage die theoretische Untermauerung für den Kanzlersturz frei Haus. In einem 49seitigen Papier mit „Anmerkungen“ zum Entwurf eines neuen CDU-Grundsatzprogramms forderte Biedenkopf eine „zeitliche Begrenzung bei der Wahrnehmung von Führungsaufgaben“, zu denen er auch „das Amt des Bundeskanzlers“ zählt. „Auf diese Weise“, so der Hinweis aus Dresden, „wird nicht nur im Amt selbst, sondern auch in den das Amt tragenden Personalstrukturen in regelmäßigen Abständen für Erneuerung gesorgt.“ Biedenkopf nennt das Beispiel der USA. Dort habe man mit der „zeitlichen Befristung des Präsidentenamtes seit Roosevelt gute Erfahrung gemacht“. Was Biedenkopf nicht eigens erwähnt: Kohl hat als Kanzler längst mehr als zwei Amtsperioden hinter sich.