„Ein Chemiewerk ist nicht kontrollierbar“

■ Uwe Lahl, Grüner Chemie-Experte im Bremer Senat, über die Macht der Beurteilungsspielräume bei Chemiegiften/ Unfälle wie in Frankfurt unvermeidbar

Uwe Lahl ist Staatsrat beim Bremer Senator für Umweltschutz und Stadtentwicklung. Der promovierte Chemiker arbeitete an der Chemiepolitik der ersten Grünen Bundestagsfraktion mit und war danach Umweltdezernent in Bielefeld.

taz: Bei dem Chemieunfall in Frankfurt sind ungefähr 15 verschiedene Stoffe freigeworden. Fast zwei Wochen nach dem Unfall ist das Gefährdungspotential jedoch nicht wirklich geklärt. Wie ist das möglich?

Uwe Lahl: Ihr Erstaunen ist verständlich, aber der Unfall bei der Hoechst AG ist ein exemplarischer Fall. Wenn die Leute nicht gleich umfallen, sondern wenn es um den statistischen Nachweis eines Effektes geht, kann man die gesundheitlichen Risiken eines Stoffes eben unterschiedlich beurteilen. Als verantwortliche Behörde muß man dann auf Vorsorge setzen. Doch das bedeutet Streit und Machtkämpfe. Die Firmen haben natürlich Interesse an einer laxeren, pragmatischen Bewertung.

Wozu aber das lange Hickhack in Frankfurt: Experten sagen, Ortho-Nitroanisol, der Hauptbestandteil der giftigen braunen Masse, die über Frankfurt niederging, sei gut untersucht.

Es handelt sich tatsächlich um eine der besser untersuchten Chemikalien. Doch die Wissenschaft läßt selbst bei sehr gut untersuchten Chemikalien Beurteilungsspielräume zu, die dann von der Industrie genutzt werden.

Ich wollte schon 1986 die Stoffe nach einer Strukturanalyse bewerten. Chemikalien, die eine verdächtige naturferne Struktur haben, kämen dann auf den Index. Wer sie weiter produzieren will, müßte den Gegenbeweis der Ungefährlichkeit antreten. Aber die Industrie hat diese Ansätze blockiert.

Die Produzenten wissen also nicht, was sie tun, und kommen bei den Behörden auch noch damit durch?

Das ist schon sehr verkürzt. Man hat sich über das Wasser- und Abfallrecht, über den Immissionsschutz und die Störfallverordnung langsam in die chemischen Fabriken hineingerobbt. Viele Regelungen sind auch nicht schlecht, wenn sie nur umgesetzt würden. Es gibt aber nach wie vor zuwenig unabhängige Experten, die den Behörden den Durchblick erleichtern und bei Entscheidungen helfen würden.

Also doch, sie kommen damit durch.

Das will ich gar nicht leugnen. Ein Chemiewerk wie Hoechst, Bayer Leverkusen oder BASF in Mannheim ist für die Behörden nicht kontrollierbar. Deshalb brauchen wir ja eine neue Chemiepolitik, die nicht bei den Anlagen sondern bei den Produkten ansetzt. Denn die Hauptemissionen der chemischen Industrie kommen nicht aus dem Abflußrohr, sondern als Produkte aus dem Werkstor.

Nun sind Sie ja Staatsrat beim Bremer Umweltsenat: Was folgt daraus praktisch für Sie als Politiker? Darf die chemische Industrie bei Ihnen weitermachen nach dem Motto: Wir wissen zwar nicht, was wir tun, aber wir tun es für den Standort Deutschland?

Eine Forderung, die chemischen Betriebe zu schließen, würde den Zusammenbruch unseres Wirtschaftssystems bedeuten. Diese Zuspitzung ist nicht politikfähig. Mit differenzierten, strukturierten Ansätzen kommt man meines Erachtens weiter. Wir müssen zum Beispiel in einem Stufenkonzept aus der Chlorchemie raus, das sind fast 50 Prozent der Produktion, und die gefährlichsten. PVC könnte für fast jede Anwendung sofort verboten werden. Unfälle wie in Frankfurt sind aber nicht vermeidbar. Wie müssen aber sicherstellen, daß die ganz große Katastrophe wie Seveso oder Bhopal verhindert wird. Interview:

Hermann-Josef Tenhagen