Nachsorge gewährleistet

Die Reinigungstrupps gehen um in Frankfurt-Schwanheim. Doch auch zehn Tage nach dem Chemie-Unfall im Hoechst-Werk Griesheim kann der Konzern nicht einmal sagen, welche Chemikalien denn genau das Land verseuchen und welche Gefahren für die Gesundheit von ihnen drohen. Ein beispielhafter Fall.

Es sei „unfaßbar“, daß die Weltfirma Hoechst auch über eine Woche nach dem Unfall im Werk Griesheim nicht die wesentlichen Daten über das Chemie-Unglück vorlegen kann, befindet die hessische Ministerin für Frauen, Arbeit und Sozialordnung, Heide Pfarr. Diese Informationen seien unerläßlich, um die gesundheitliche Belastung der Betriebsangehörigen und den mit den Reinigungsarbeiten im Frankfurter Stadtteil Schwanheim beschäftigten ArbeitnehmerInnen zu beurteilen. Pfarr: „Hier wird eine Verschleppungstaktik zu Lasten der Beschäftigten praktiziert.“ Die Ministerin forderte von Hoechst umgehend ein umfangreiches arbeitsmedizinisches Untersuchungsprogramm für alle Betroffenen. Dies hat die Hoechst AG inzwischen zugesagt, wie Pfarrs Sprecherin Siggi Richter am Donnerstag auf Nachfrage mitteilte: Die „Nachsorge ist gewährleistet“ – aber wie steht es mit der Prävention?

Mit der von Umweltminister Joschka Fischer (Die Grünen) eingeleiteten Überprüfung der rund 100 Chemieanlagen des Landes, in denen exotherme, diskontinuierliche Reaktionen stattfinden und ähnliche Überdrucksicherungssysteme wie im Griesheimer Werk der Hoechst AG installiert sind, sollen Schwachstellen in den technischen Systemen analysiert und anschließend beseitigt werden. Immerhin – eine Nachsorgemaßnahme mit präventivem Charakter. Doch als Einstieg in eine tatsächliche produktbezogene Kontrolle der Chemieindustrie, wie von Kritikern seit Jahren gefordert (siehe auch Interview), können die von Pfarr und Fischer eingeleiteten Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen nach Auffassung etwa auch der Grünen im Frankfurter Römer nicht bezeichnet werden. Fischers Parteifreunde in der Metropole forderten nach dem Störfall die „lückenlose Aufklärung“ über die Zusammensetzung des Chemiecocktails, der am 22. Februar über dem Stadtteil Schwanheim niederging. Doch was in den Chemikalienkesseln der Hoechst AG, der Bayer-Werke oder der BASF tatsächlich vor sich hin brodelt, und vor allem, ob diese Substanzen mittel- und langfristig Krankheitsbilder aufbauen, wissen oft noch nicht einmal die „Chemiekocher“ selbst (siehe auch die Ökolumne auf Seite 6).

Auch Roland Horner, Sprecher im rheinland-pfälzischen Umweltministerium, beschleicht ein „ungutes Gefühl“ – „gerade was die rund 6.000 bis 10.000 Altstoffe von wirtschaftlicher Bedeutung anbelangt, mit denen die Chemieindustrie teilweise seit Jahrzehnten umgeht“. Deren Erforschung im Hinblick auf chronische Wirkungen sei zwar immer wieder Thema bei den Umweltministerkonferenzen der letzten Jahre gewesen, doch bis auf die Einrichtung des sogenannten unabhängigen Beratergremiums für umweltrelevante Altstoffe (BUA) habe sich nicht allzuviel getan. Und die Gewerbeaufsichtsämter und die Landesanstalt für Umwelt, so Horner, seien personell nicht so ausgestattet, daß eine Kontrolle etwa des rheinland-pfälzischen Chemiegiganten BASF in Ludwigshafen auch nur im Ansatz möglich wäre. Dennoch lobt Horner die BASF: Ein Unfall wie bei der Hoechst AG könne bei BASF nicht stattfinden, glaubt Horner, denn dort gehörten automatische Abschaltvorrichtungen, die bei Störfällen aktiviert würden, längst zum Standard.

Als „nahezu chancenlos“ erachtet auch der Umweltexperte der Landtagsfraktion der hessischen Grünen, Horst Burghardt, allerdings jeden Versuch, den Chemiefabriken in die Kessel schauen zu wollen. Das sei auch juristisch problematisch – eigentumsrechtlich, patentrechtlich und allgemeinrechtlich. Auch für Burghardt sind die Altstoffe der eigentliche Horror: „Von rund 80 Prozent dieser Stoffe wissen wir nicht, wie sie langfristig wirken.“ Daß das überwiegend von der Chemieindustrie selbst getragene BUA bei der Erforschung der Altstoffe so „extrem langsam“ arbeite, hält der Abgeordnete für einen politischen Skandal. Das BUA müsse endlich ganze Stoffgruppen untersuchen und bewerten – „aber wenn man sich an Einzelstoffen abarbeitet, schafft man eben nur zehn in einem Jahr.“ Für Burghardt ist die „schleppende Untersuchungspraxis des BUA“ politisch gewollt, denn Tausende von Altstoffen bildeten noch immer die Grundlage für die Produktion der Chemiegiganten – „und damit sind sie letztendlich auch die Garanten für den Lebensstandard in der Industriegesellschaft“.

Die Grünen im hessischen Landtag wollen sich mit diesem Zustand allerdings nicht abfinden. Sie haben Haushaltsmittel etwa zur Erforschung von Ersatzprodukten für die als besonders aggressiv geltende Chlorchemie beantragt. Und eine verbesserte Störfallverordnung, so Burghardt, könne die Chemieindustrie auch dazu zwingen, sich Gedanken darüber zu machen, welche Stoffe entstehen, wenn – wie im Fall der Hoechst AG – eine Anlage „durchdreht“.

Im Grunde aber, so Burghardt, bleibe den Umweltministern der Länder nur der Weg, den Joschka Fischer in Hessen jetzt eingeschlagen habe: „Sicherheitstechnik optimieren – der Rest ist Gottvertrauen.“ Das will der Grüne Minister allerdings so nicht stehen lassen: „Die Debatte um die Chlorchemie muß jetzt geführt werden“, so Fischer zur taz. „Und zwar nicht im Sinne eines Ausstiegs, wie aus der Atomindustrie, sondern im Sinne der Konversion.“ Klaus-Peter Klingelschmitt