Der Herzensträgheit keine Chance

■ Ingeborg Michael, die vor zehn Jahren die erste Friedenskette organisierte, setzt sich für bosnische Frauen ein / "Krieg ist die Speerspitze des Patriarchats"

Berlin. Ingeborg Michael ist gerade auf dem Sprung. „Ich muß nachher Flugblätter verteilen für die Demonstration am Internationalen Frauentag, und danach geh' ich noch zu zwei Vorbereitungstreffen“, sagt sie lachend und streicht sich dabei eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. „Die vergessen wohl alle, daß ich bald 66 werde.“ In einem Alter, in dem andere im Ruhestandsnest vor Gemütlichkeit erstarren, engagiert sich die quirlige Dame seit über zehn Jahren für Frauenrechte und die Friedensbewegung. Von Müdigkeit keine Spur. „Dazu gibt es zu viel zu tun. Schau dich doch um!“

Die Mitgründerin der Gruppen „Frauen für den Frieden“ und „Mütter gegen Gewalt“ organisiert derzeit Spendenaktionen, Demonstrationen und Informationsveranstaltungen für die vergewaltigten Frauen in Bosnien und den besetzten Gebieten Kroatiens. „Wenn ich daran denke, daß die Frauen dort sitzen und warten, vergewaltigt werden und auf Hilfe hoffen, dann werde ich verrückt.“ Durch die Arbeit in den Frauengruppen, erzählt die pensionierte Lehrerin, „lebe ich mein drittes Leben.“

Ihr erstes endete 1939. Für die zwölfjährige Tochter einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters begann der Alptraum einer Kindheit unter dem Hakenkreuz. Wohlbehütet aufgewachsen in einer deutschen Familie in Polen, brach innerhalb eines Jahres alles auseinander. Das Kind einer verbotenen „Mischehe“ mußte die Schule verlassen, der Vater organisierte für Ingeborg, deren Mutter und Schwester ein Versteck in einem Dorf. Über Monate hinweg lebten die drei in beengten Verhältnissen mit der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Als die geheimen Besuche des Vaters bei seiner Familie bekannt wurden und das Versteck aufzufliegen drohte, flüchtete die deutsche Großmutter mit gefälschten Papieren und den zwei Kindern nach Berlin. Der Vater landete im Gefängnis, die Mutter starb in Auschwitz, der jüdische Teil der Familie verhungerte im Warschauer Ghetto.

„Auschwitz“, sagt Ingeborg Michael unter Tränen, „Auschwitz existiert immer noch, es geht weiter, ganz leise.“ Ihre jüngere Schwester konnte den Tod der Mutter nie verwinden und nahm sich das Leben. Ingeborg selbst sucht auch heute noch oft in Gedanken nach einem Versteck für die Mutter, „weil ich sie damals nicht retten konnte“.

Im zerstörten Berlin überlebte sie, getarnt als polnische Fremdarbeiterin, den Krieg. „Ich kämpfte. Ich rette mich immer!“ sagt sie bestimmt. Mit 14 arbeitet sie als Haushaltshilfe und trägt die alleinige Verantwortung für die zerstückelte Familie. Nach Kriegsende bewirbt sie sich für eine Lehrerausbildung und bekommt „durch meine Hartnäckigkeit“ die Stelle.

Aus dem Mädchen, das insgesamt nur sechs Jahre die Schule besuchte, wird eine Grundschullehrerin. „Schule war für mich immer ein Verdummungsobjekt. Ich wollte die Kinder zu Menschlichkeit und Stärke erziehen. Einzelkämpfer haben wir doch schon genug.“ Trotz Heirat und zwei Kindern arbeitete sie weiter im Schuldienst, engagierte sich als Vertrauensfrau in der GEW und in der Berliner Frauenbewegung. Lange vor dem Fall der Mauer besuchte sie für „Frauen für den Frieden“ Bärbel Bohley. Das war ein Risiko, doch „Frauen müssen öffentlich werden, laut sein, sich verbünden, nur so werden sie registriert“.

Woher sie die Kraft nimmt, die Willensstärke? Sie denkt nach und schüttelt den Kopf. „Ich weiß es nicht. Es ist so.“

Für die kleine, humorvolle Frau ist es nur konsequent, sich für Frauen und Frieden einzusetzen. Das war 1983 so, als 6.000 Frauen in Berlin eine Friedenskette zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Botschaft formten. Das ist heute so, wenn sie frierend und mit klammen Händen Flugblätter gegen den Krieg in Bosnien und Kroatien verteilt. „Der Krieg“, sagt sie, „ist die Speerspitze des Patriarchats.“ Und die will sie brechen. tast