Hilfe, der fuchtelt mit dem Messer herum!

Die Kriminalpolizei übt mit SchülerInnen Anti-Gewalt-Training/ Was tun, wenn man sich in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen bedroht fühlt oder andere bedroht werden?  ■ Von Anne-Kathrin Koppetsch

Berlin. Tatort U-Bahn. Der etwa 50jährige Mann stiert die junge Frau an, die ihm gegenüber sitzt. Dann begrapscht er ihren Oberschenkel, tastet sich zum Oberkörper. Die Frau reagiert nicht. Als der Mann zudringlicher wird, stößt sie hervor: „Faß mich nicht an“ – so hastig, daß es fast nicht zu verstehen ist. Wird der Täter jetzt von ihr ablassen?

„Was hätte sie anders machen können, damit der Mann sie in Ruhe läßt?“ fragt Reinhard Kautz, der sich wieder vom zudringlichen Fahrgast in den Kriminalhauptkommissar verwandelt hat. „Aufstehen, weggehen“, schlägt eine der 15 Schülerinnen der 10. Klasse einer Charlottenburger Oberschule vor, mit denen Kautz Anti- Gewalt-Training in den Räumen der Polizeihistorischen Sammlung übt. „Das ist besser, als den Täter anzusprechen, wenn er schon was gemacht hat.“

Aber noch nicht gut, weil der Täter sich dann ein neues Opfer sucht. Kautz setzt sich auf den Stuhl, den im Rollenspiel die Schülerin besetzte. „Du, sag mal, der glotzt mich so an, hab' ich Pickel im Gesicht?“ brüllt er unvermittelt, und der Täter läßt von ihm ab. Wirklich? Die Schülerinnen sind skeptisch. Doch, er habe die Szene mit einer Kollegin in der U-Bahn durchgespielt. Mehrere Fahrgäste im Abteil reagierten auf die selbstbewußte Ansprache, und er als Täter mußte flüchten, versichert er. Fazit: Wenn das Opfer Initiative ergreift, bevor der Täter zum Zuge kommt, kann sich der Täter nicht in der Situation etablieren. Er spürt Widerstand und läßt vom Opfer ab.

Angst ist oft nur eine Ausrede für Passivität

In der nächsten Szene sitzen sich zwei Männer gegenüber. Der eine holt ein Messer hervor, spielt damit, fuchtelt plötzlich dem anderen vor der Nase herum. Drei Fahrgäste im Abteil unterhalten sich, bemerken die Szene, aber unternehmen nichts. Warum bleiben die Zeugen passiv? „Angst, Hilflosigkeit, Unterlegenheitsgefühl“, schlagen die Schülerinnen vor. „Hattet ihr Angst?“ wendet Kautz sich an die Schülerinnen, die die Rolle der Tatzeuginnen eingenommen hatten. „Alles Ausreden“, sagt er, als die Schülerinnen verneinen. Die wirklichen Ursachen für die Passivität in dieser Situation seien Unwissenheit und Peinlichkeit. Das Opfer spricht die anderen Fahrgäste nicht direkt an, weil ihm die Situation peinlich ist. Die Zuschauer ziehen nicht die Notbremse, weil sie nicht wissen, daß der Zug dann noch weiterfährt bis zur nächsten Station. Oder es ist ihnen peinlich, sich einzumischen. „Wir haben das gar nicht so ernst genommen“, entschuldigt sich eine der untätigen Zuschauerinnen im nachhinein.

Nur der Täter ist frei von Hemmungen und macht weiter, manchmal drei oder vier U-Bahn-Stationen lang, bevor er zusticht. „Hilfe, der fuchtelt mit dem Messer rum“, schreit Kautz plötzlich mit sich überschlagender Stimme: „Hilfe, Hilfe!“ Hysterisches Schreien macht die Situation für den Täter peinlich, weiß er. Damit hat das Opfer den Spieß umgedreht, und der Täter läßt von ihm ab.

Und wenn die Zuschauer die Notbremse ziehen und der Täter am nächsten U-Bahnhof entkommt? Natürlich wollen sie, daß der Täter gefaßt wird, nicken die Schülerinnen. Vor Harakiri-Aktionen warnt Kautz aber ausdrücklich. Wer keine Erfahrung im Nahkampf hat, soll den Täter lieber laufen lassen, anstatt sich ihm in den Weg zu stellen und zu riskieren, daß er selbst niedergestochen wird. Wenn das Opfer gerettet wird, dann ist das schon ein Erfolg. Es sei auch keine Schande, den Täter entkommen zu lassen.

Fünfzehn Schülerinnen schauen gespannt auf, als Kautz ein Butterfly-Messer hervorholt. Eine Schülerin, die früher eines besessen hat, führt es vor. Was tun, wenn in der Schule Konflikte zunehmend mit Waffen ausgetragen werden? Die nächste Frage kommt unvermittelt. „Hast du Vertrauen zur Polizei?“ fragt Kautz, „Vertrauen zu deiner Lehrerin? Zu dir selbst?“ Kautz weiß, wie schwer es für Jugendliche ist, Vertrauen zu Institutionen und Autoritäten zu fassen. Trotzdem rät er dazu, eine Lehrerin oder einen Lehrer zu informieren, wenn Konflikte an der Schule eskalieren. Nur in Ausnahmefällen solle auch die Polizei alarmiert werden. „Jugendliche schlagen schnell mal zu, das ist noch kein Grund, sie gleich im Polizeicomputer zu speichern.“ Da viele Lehrer aber im Umgang mit Gewalt selbst ungeübt sind, solle demnächst auch ein Trainingsprogramm für die Pädagogen durchgeführt werden, kündigt er an.

Von bewaffnetem Selbstschutz hält Kautz gar nichts. „Wer sich bewaffnet, wird irgendwann zum Täter“, ist seine Erfahrung. Aber wie können sich Opfer wirkungsvoll schützen, oder verhindern, daß sie zu Opfern werden? Kautz, der Klaus-Maria Brandauer nicht nur ähnlich sieht, sondern auch beachtliches schauspielerisches Talent aufweist, führt es in einigen Szenen vor.

Eine Frau geht nachts nach Hause, hört Schritte hinter sich. Sie wechselt die Straßenseite, der Mensch verfolgt sie weiter. Dann läuft sie in einen Hausflur, schreit „Feuer, Feuer!“ – Die Bewohner öffnen die Türen, der Täter flieht.

Nächste Situation: Ein Mann ist auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn eingeschlafen. Plötzlich wird er wach, weil randalierende Jugendliche ins Abteil gekommen sind. Er ist mit ihnen allein. Was tut er? „Ich habe mein Portemonnaie verloren, und die Zigaretten auch. Habt ihr mal 'ne Kippe?“ Das potentielle Opfer ist die Täter angegangen, bevor sie selbst zum Zuge kamen.

Am U-Bahnhof steht eine Frau und spürt jemand dicht hinter sich. Sie hat ein ungutes Gefühl dabei. Deshalb geht sie auf den Mann zu, der zehn Meter von ihr entfernt Zeitung liest: „Kann ich mich zu dir stellen, da belästigt mich jemand.“ Damit hat sie dem Täter gezeigt, daß sie ihn zur Kenntnis genommen hat, er wird sie in Ruhe lassen.

Eine Frau ist nachts alleine auf einem langen Korridor im U- Bahnhof. Ein Mann verfolgt sie, niemand ist in der Nähe. Selbstbewußtsein demonstrieren, denkt sie, und geht steif mit hochgezogenen Schultern weiter. Der Mann holt sie ein und beraubt sie ihrer Handtasche. Besser hätte sie sich umgedreht und gesagt: „Sind Sie nicht Herr Müller von der Firma Kosovo? Ich wollte Sie gerade schon ansprechen.“ Damit hat sie die Initiative in der Situation übernommen. Und wenn es nicht klappt? Kautz zuckt die Achseln: „Zu verlieren hatte die Frau nichts mehr, der Täter hätte so oder so angegriffen.“

Und wenn ein Nahkampf unvermeidlich ist? Selbstverteidigung muß trainiert sein, man muß die Schmerzstellen des Gegners kennen und die Reaktionen am eigenen Körper einschätzen können, klärt Kautz die gebannt lauschenden Schülerinnen auf. Außerdem gilt gesetzlich nur als Notwehr, was in der direkten Angriffssituation geschieht. Wenn ein Angegriffener sich mit Gegenständen wehrt, die er bei sich führte, wird das vor Gericht härter geahndet als die Notwehr mit einem gefundenen Gegenstand. Auch das spricht gegen eine Bewaffnung. Einen Tip hat Kautz aber trotzdem noch für die Schülerinnen: Wenn sie sich für den Fall der Fälle ausrüsten wollen, dann sollen sie nicht Reizgas mit sich führen, sondern lieber eine dicke Polsternadel. So ein Stich in den Oberschenkel ist nicht allzu gefährlich, dafür aber um so schmerzhafter und treibt den Täter in die Flucht.