■ Querspalte
: Die wahren Herrscher

Der sowjetische Geheimdienst KGB, so war kürzlich zu erfahren, hatte sich vor Jahren in Washington eine ganz spitzfindige Methode ausgedacht, um die finsteren Absichten der US-Imperialisten aufzudecken. Allabendlich, so berichtete ein Überläufer, wurde die Zahl der beleuchteten Fenster im Pentagon gezählt. Einfache Rechnung: je mehr erleuchtete Stübchen, um so fieberhafter die Vorbereitung eines militärischen Schlages gegen die Sowjetunion. Material für ähnlich kluge Analysen liefert nun eine Senatsantwort auf eine parlamentarische Anfrage über den Verbrauch von weißem Schreibpapier. Die Liste der Umweltfrevler im Senat ist lang, doch wirklich eindrucksvoll wird sie durch die mitgelieferte Begründung für das umweltschädigende Verhalten in den Amtsstuben. Ganz nebenbei wird mit harten Zahlen enthüllt, wer wirklich etwas zu sagen hat in der Regierung. Die materiellen Verhältnisse, so hat uns Marx eingebleut, sind die entscheidende Grundlage für Machtverhältnisse: Wer viel verbraucht, stellt viel dar. Denn, so der Senat jetzt, weißes Papier darf verbrauchen, wer etwas repräsentiert.

Mit der Liste ist Verkehrssenator Haase (CDU) endgültig als Leichtgewicht entlarvt. Wir ahnten es schon lange – doch wer hätte gedacht, daß er jährlich nur 40.000 Blatt weißes Schreibmaschinenpapier leicht ist? Da bleibt dem Schlußlicht doch nur der Rücktritt. Überraschender ist es freilich schon, daß auch Innensenator Heckelmann in Wirklichkeit nur ein Papiertiger ist: Er hat im Jahr lediglich 150.000 Blatt weißes Papier herausgeschlagen. Und auch der Regierende Bürgermeister ist enttarnt als niedere Charge, die nicht viel hermacht: Immerhin werden ihm aber 2,2 Millionen Blatt weißes Papier im Jahr für repräsentative Schreiben zugestanden. Die wahren Herrscher im Senat aber sitzen in ganz anderen Amtsstuben: Mit gewichtigen 3 Millionen Blatt Weißpapier kommt Bausenator Nagel (SPD) daher. Doch auch er ist noch eine wahre Pappnase gegenüber dem Papierhunger der Schulverwaltung: Auf 6,8 Millionen Blatt unschuldigem weißem DIN-A4-Papier wird klargestellt, wessen Wort etwas gilt. Und die marxistische Gesellschaftsanalyse bewahrheitet sich aufs genaueste mit dem Papierverbrauch der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie: Mit 11,7 Millionen Blatt weißem Schreibpapier macht die Ökonomie ihr Primat deutlich. Die Klassenstruktur der Gesellschaft läßt sich eben nicht verleugnen und entlarvt sich selbst in den feinsten Kleinigkeiten wie dem Papierverbrauch, würde der sowjetische Geheimdienst jetzt frohlocken. Wenn es ihn noch gäbe. Gerd Nowakowski