Avanti Marsch!

Fast wie im richtigen Leben: Impressionen von den Schlagerfestspielen in San Remo. Panorama musicale mit Glitzerkleid und Selbstbewußtsein  ■ Von Elmar Kraushaar

Ein Teppich auf dem Bürgersteig weist den Weg von der Piazza Colombo den Corso Matteotti hinunter bis vor das „Teatro Ariston“. Das größte Kino von San Remo ist Austragungsort des 43. „Festival della Canzone Italiana“, des größten Schlagerwettbewerbs im Lande, und – wie die Organisatoren bescheiden anmerken – „der bedeutendsten Musikveranstaltung der Welt“.

Zwar hat die Welt ganz andere Sorgen, und das politische Leben in Italien ist derzeit auch mal wieder nicht ohne, aber der Wille zum Schlager ist ungebrochen: Das Festival begleitet einen in dem beschaulichen Badeort an der italienischen Riviera auf Schritt und Tritt. Jedes Schaufenster ist dekoriert mit Erinnerungen an die lange Geschichte der Mammutveranstaltung, die seit 1951 immer in der letzten Februarwoche stattfindet. Von allen Plakatwänden strahlen die Fotos der diesjährigen Teilnehmer – 57 Sängerinnen und Sänger in der Sparte Campioni e campionissimi und 20 bei den Novitá – ebenso wie von Zeitungs- und Illustriertentiteln an den Kiosken. Das Spektakel wird live an den vier Wettbewerbsabenden bis nach Mitternacht vom staatlichen Fernsehen RAI ausgestrahlt und erreicht Einschaltquoten, die sonst nur der Fußball kennt: Mehr als 17 Millionen waren es am ersten, dem Dienstag abend, und über 20 Millionen verfolgten zu Spitzenzeiten die Entscheidung Samstag nacht.

Im Saal des Ariston wird die Massenveranstaltung zum gesellschaftlichen Ereignis, Frauen im Pelz und Smoking-Männer bestimmen das Bild. Allein ihr allabendlicher Einzug ist ein Spektakel für sich: Die Straßen rund um das Kino sind weiträumig gesperrt, Polizisten halten die unzähligen Zaungäste zurück, die einen Blick auf die Festival-Gesellschaft werfen wollen.

Die Bühne im Saal selbst gleicht einer Operettendekoration der Jahrhundertwende: Lüster und Lampen, Balkons und Balustraden, Treppen und Blumen überall. Mittendrin sitzt das Orchester, 56 Männer und Frauen, hier ist alles live. Aber die Show beginnt erst, als er die Bühne betritt: Pippo Baudo, eine Institution des italienischen Fernsehens seit 1960, moderiert den Wettbewerb in diesem Jahr zum fünften Mal, und nie alleine. Die Inszenierung will es, daß eine Frau an seiner Seite ist. Lorella Cuccarini heißt sie in diesem Jahr, und ohne Zweifel verfügt sie über die Voraussetzungen, die ihr Job verlangt: möglichst blond, Hauptsache Dekolleté. „Brava“, schreien die Männer im Saal, „Brava“. 1992 spielte Brigitte Nielsen den Beauty-Part, in früheren Jahren waren Elsa Martinelli, Ira von Fürstenberg oder Sylvia Koscina dabei. Meister Baudo und La Cuccarini verstehen ihr Handwerk. Im unaufgeregten Plauderton bitten sie die Künstler auf die Bühne, im Wechsel einen aus der Sektion früherer Sieger oder Teilnehmer sowie eine Neuvorstellung, so sieht es das Reglement vor in diesem Jahr.

Das war noch ganz anders 1951, da erledigten ein paar wenige alles. Allein die Siegerin damals, Nilla Pizzi, mußte neun Lieder präsentieren. Wieder anders in den sechziger Jahren: Jeder Titel ging in doppelter Version ins Rennen, eine wurde vorgetragen von einem Einheimischen, die andere von einem Gast aus dem Ausland. Da waren Cher dabei, Ray Charles und Timi Yuro, Stevie Wonder und Louis Armstrong, Sandie Shaw und The Yardbirds, Peter Kraus und Udo Jürgens und viele mehr. Bis 1968 wieder alles über den Haufen geworfen wurde: kein Autorenfestival sollte es mehr sein, die Jungen drängten nach vorne mit kritischen Liedern, die Generation der cantautori. Das ist so geblieben, fast alle diesjährigen Teilnehmer haben ihre Titel selbst geschrieben und komponiert. Entsprechend souverän treten sie auf, ganz ohne Festival-Firlefanz und Bühnengarderobe, dafür in Jeans und Lederjacke, Rollkragenpulli mit Schal oder Phantasiekostümen just for fun.

Wie die Kleidung nur die Linie der individuellen Unterschiede kennt, so geht es auch im musikalischen Programm hin und her, ein Querschnitt del panorama musicale in Italia. Der älteste Teilnehmer, der 81jährige Roberto Murolo, singt auf neapolitanisch „L'Italia é bbella“, die Jüngste, die 18jährige Laura Pausini, macht die Einsamkeit der Teenager zu ihrem Thema: „La solitudine“. Dazwischen bewegen sich die übrigen Genres, Rock, Pop, World Music, Rap und was es der Moden noch mehr gibt.

Die Figuren auf der Bühne sind ganz anderer Art, als man sie hierzulande kennt. Keine adretten Jungmänner auf Schwiegersohn- Kurs, keine verklemmten Tunten, die den Hetero markieren, keine Mädels im Chic von C&A. Dafür der Macho mit Reibeisenstimme und Dreitagebart, der intellektuelle Softie mit Herz und Sex-Appeal und Frauen, die keinem Zeitgeist hinterherjagen. Können tun sie alle was, singen allemal.

Einige sind sogar herausragend. Wie Loredana Berté und Mia Martini, zwei Schwestern, die – als Solistinnen schon lange Stars – es hier zum ersten Mal gemeinsam versuchen. Mit einem Text, den keiner versteht, irgend etwas von Flugzeugnasen, die auf rote Katzen treffen. Als La Berté tags drauf der Presse den Text erläutern will, verdunkelt sich der Sinn noch mehr.

Auch Milva macht mit, der „rote Panther“ wird sie genannt, seit 1961 versucht sie es zum 14.Mal. Mit einem prätentiösen Lied über den gewöhnlichen Mann: „Uomini – avanti marsch“. Das erledigt sie ganz brechtisch im Vortrag – und kommt gar nicht an, auch nicht ins Finale. Die Zeitungen schäumen über am Tag danach: „Eine Königin wurde vom Thron gestürzt.“

Die wirkliche Königin kommt ganz am Schluß: Renato Zero. Die prominenteste Tunte im Land hatte schon vor ein paar Jahren ihren Abschied gegeben, kommt aber für San Remo noch einmal zurück. Schlicht, ganz schlicht, ohne Make-up, aber mit Brille aus dem Intellektuellen-Fundus. „Ave Maria“ heißt sein Lied, seine Predigt, seine Messe. Mit großem Opernchor und voller Demut gesungen. Eine Stille ist dabei im Saal wie bei keinem zuvor. Und am Ende hält es niemanden auf seinem Platz: standing ovations und Jubel wie auf dem Fußballfeld. Noch in der Nacht ziehen Hunderte jugendlicher Fans durch die Straßen von San Remo: „5 – 4 – 3 – 2 – 1 – Zero“.

Das Finale am letzten, dem Samstag abend scheint sich erledigt zu haben damit. Und doch kommt es anders. Noch 24 sind im Rennen, 15 von den Campioni und neun Novitá. Bewertet werden sie von den Jurys in den zwanzig RAI- Studios von Ancona bis Venezia. Als das Ergebnis weit nach Mitternacht klar ist, gibt es keine Ruhe mehr im Saal: Renato Zero – 6.773 Punkte – Platz 5! Der Sieger heißt Enrico Ruggeri, und auf Platz 2 landet Cristiano De André, der Sohn vom berühmten Fabrizio. Dritte werden Rossana Casale und Grazia Di Michele, über deren Lied – „Gli amori diversi“ – schon seit Tagen die Presse spekuliert, ob das was Lesbisches sei oder nicht. Bei den Novitá gewinnt die Jüngste, Laura Pausini. Der Dritte, Nek, mit seinem Pop-Song gegen die Abtreibung, erntet empörte Buhrufe.

Vor dem Teatro Ariston geht derweil gar nichts mehr. Die Zero- Fans sind wieder da, voller Wut, und treffen auf die Veranstalter des Controfestival vom Nachmittag, Kommunisten und Gewerkschaftler.

Die wiederum sind gekommen, um gegen die Faschisten des Movimento Sociale zu demonstrieren, die am Abend unter Führung der Mussolini-Enkelin Alessandra direkt neben dem Ariston getagt hatten. Die zahlreichen Carabinieri bekommen zu tun, und die Festivalgäste sitzen fest im Saal.

„Keine Prominenz, keine Skandale“ – die San-Remo-Experten von der Presse bleiben gelassen in ihren Kommentaren am Tag danach. Vielleicht war wieder Bestechung im Spiel, mutmaßen sie, und vielleicht sollte Medienmogul Berlusconi das Festival in sein Privatfernsehen übernehmen. „Schließlich“, schreibt La Stampa, „war San Remo einst das Fernsehereignis des Jahres. Jetzt ist es nicht einmal mehr das einer Woche.“ Und empfiehlt, doch nach Australien auszuwandern, vielleicht sei da mehr los.