: Der KZ-Häftling mit der Nummer 1
Das Leben des Nazi-Gegners Claus Bastian: Ein Abenteurer, Kommunist, Bergbauer und Jurist/ „Als Mensch muß man doch sagen, was man meint. Weil man ein Mensch ist.“ ■ Von Manfred Otzelberger
Schon immer dachte Claus Bastian, 83, positiv. „Nanu, die Milch kommt heut schon sehr früh“, kam es ihm am 9. März 1933 in den Sinn, als um 4 Uhr früh ein stürmisches Läuten seinen Schlummer störte. Der 23jährige wankte in seiner Schwabinger Studentenbude schlaftrunken ans Fenster und blickte in zwei aufgepflanzte Bajonette. „Nehmen's lieber a Zahnbürschtl mit“, rieten die vier Polizisten, die ihn – ohne jede Begründung – abtransportierten.
Bastian landete im von Heinrich Himmler übernommenen Münchner Polizeipräsidium, Ecke Löwengrube, wo schon 45 andere „Schutzhäftlinge“ auf dem kalten Steinboden einer Gemeinschaftszelle hockten. Über die Gefängnisse in Stadelheim und Landsberg, wo Adolf Hitler 1923 in der Festungshaft „Mein Kampf“ schreiben durfte, wurde Bastian zwei Wochen später auf einem Lastwagen nach Dachau gekarrt: Der erste Schub in die „Pumf“, die stillgelegte Pulver- und Munitionsfabrik in der oberbayerischen Kleinstadt, Dort wollte die SS das erste deutsche Konzentrationslager errichten. „KZ“ oder, wie die ersten Bewacher abkürzten, „KL“ – diese Schauer-Silben sagten dem arglosen Intellektuellen Claus Bastian noch gar nichts. Daß er als Häftling mit der Nr.1 registriert wurde, hatte weniger mit seiner kriminalpolitischen Energie als mit peniblen Amtsstubenbräuchen zu tun. „Ich seh' noch genau die Liste vor mir, wie der Polizist ,Bastian‘ an die erste Stelle schreibt, ordentlich nach dem Alphabet.“
Ein halbes Jahr lang mußte das „Gründungsmitglied“ (Bastian über Bastian) mit ansehen, wie Häftlinge ausgepeitscht, ins kalte Wasser einer Kiesgrube gestoßen, mit Steinen beworfen oder schlicht „auf der Flucht erschossen“ wurden. Mit Glück, Schläue und Verdrängung („Wenn ich damals im März gewußt hätte, ich würde ein halbes Jahr im Lager bleiben müssen, dann wäre ich garantiert an den geladenen Stacheldraht gegangen“) überstand Bastian das Grauen und wurde wieder in eine Welt ausgespien, die er das „Tollhaus dieses Jahrhunderts“ nennt.
„Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich riskierte, aber heute weiß ich, solche wie die, die mußten solche wie mich verhaften. Aber ich kann nicht behaupten, ich sei als Freiheitskämpfer und Held Andreas Hofer aufgetreten. Ich bin nicht die Weiße Rose. Letzten Endes war's doch Kinderei“, sagt der alte Mann über den jungen. Und fügt eine Selbstverständlichkeit hinzu, die nicht einmal in einer freien Gesellschaft selbstverständlich ist: Als Mensch muß man doch sagen, was man meint. Weil man ein Mensch ist.“
Bastian war nie vordergründig politisch, sondern eher elitär-ästhetisch. Im Münchner Café Steinicke bewegte er sich in Künstlerkreisen um Oskar Maria Graf und Joachim Ringelnatz. Er freundete sich mit Richard Scheid, Kriegsminister der Münchner Räterepublik, ebenso an wie mit dem überzeugten Anarchisten Erich Mühsam und dem weltmännischen Journalisten Hans Habe.
Der Abenteurer in Bastian strebte 1929 sogar für ein Jahr an die Pariser Sorbonne, verkehrte in Künstlerkreise um Dufy, van Dongen, Miró, Picasso. Als Steptänzer verdiente er sich ein Zubrot. Zurück in München, gründete er zwar den Marxistischen Studentenclub, aber eher als wolkigen Debattierzirkel denn als schlagkräftige Kadergruppe. 1931 trat der Ingenierssohn auf der Suche nach einem kosmopolitischen Humanismus sogar in die KPD ein, um die allmächtige Partei ein halbes Jahr später wieder zu verlassen, weil die „groben, brutalen Burschen, mit denen ich die rote Fahne auf der Straße trug, nicht meine Sympathie hatten“.
Sein Austritt hinderte ihn allerdings nicht, weiter im Reisebüro Intourist Ausflüge ins Paradies der Arbeiter und Bauern („7 Tage Moskau für 159 Mark“) zu vermitteln. Die Proletarier, die wieder zurückkamen, wetterten: „Du gehörst erschlagen, uns da 'nüberzuschicken, in dieses Elend!“
Bastian war nicht klar, was „Stalin“ bedeutete. Betont undogmatisch, kannte er kaum Berührungsängste. Er trieb sich in der mondänen Regina-Hotelbar ebenso herum wie in Giesinger Arbeiterkneipen: „Etwas Kommunist und hauptsächlich Dandy“, so schätzte sich der junge Mann ein. Das Dritte Reich empfand er als persönliche Belästigung und Beleidigung. Der Nationalismus war für ihn schlicht kleingeistig: „Was ist es anderes, als wenn Feldmoching gegen Trudering kämpft?“ Hitler erschien dem politischen Schöngeist abwechselnd als „Witzfigur“ und „Pestbeule“.
Zumindest den Hörsaal wollte der angehende Akademiker als nazifreie Zone erhalten wissen. Als 1931 NS-Schläger den jüdischen Rechtslehrer Nawiasky aus der Münchner Uni prügeln wollten, weil der Professor Deutschland eine Mitschuld am Ersten Weltkrieg attestiert, stieg Bastian auf das Katheder und schrie eine feurige Rede über die Freiheit von Forschung und Lehre herunter. Die Reaktion der Nazis: Sie rissen ihm die Hose herunter. „Dann hab' ich's Reden ganz plötzlich aufgehört. Logisch. Entblößt, bloßer geht's nicht.“
Durch diesen ungestümen Auftritt kam Bastian offenbar auf die rote Liste, die zwei Jahre später direkt nach Dachau führt. Der examinierte Jurist geriet dort in eine rechtsfreie Zone, die seine Vorstellungskraft überstieg. Die Häftlinge mußten bei Zählappellen, einer Dachauer Sado-Spezialität, stundenlang stehen und zuschauen, wenn Menschen in Latrinen geworfen wurden. Einigen wurde Kot in den Mund geschmiert, anderen wurden Dornenkronen aufgesetzt oder Hiebe auf dem „Bock“ mit dem Ochsenfiesel verpaßt: 50 Schläge aufs Gesäß, bis auf die Knochen. Die Leichen wurden nachts verbrannt. Ein Schock für Bastian: „In dem Alter war der Tod für mich noch gar nicht denkbar, und plötzlich wirst du dem gegenübergestellt.“
Verzweifelt versuchten die Gefangenen ihre Würde zu bewahren, ob sie nun Kommunisten waren oder Erzkonservative. Die hatten es besonders schwer. Als dem späteren bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer bei seinem Einzug ins Lager ein Schild mit den Worten „Den Hund ham'mer“ umgehängt wurde, feixten auch kommunistische Häftlinge, wie Bastian sich mit Schaudern erinnert.
„Es gibt nicht nur Schlechtes auf der Welt“, hämmert sich Bastian trotzdem ein. „Andere sammeln Briefmarken, wir sammeln das Gute.“ Es baute ihn auf, wenn einer dem anderen beim Pflegen der Wunde half, wenn einer Mundharmonika spielte.
Und da war noch Maria. Maria von Koczian, eine adelige „Arierin mit ostischem Schuß“ aus der ungarischen Fürstenberglinie, seine Geliebte, die ihm honigsüße englische Zigaretten, Marke „Gold Flakes“, ins Lager schickte. Sie wiederzusehen war das stärkste Motiv für Bastian, die Qualen zu ertragen: „Was die Liebe für eine Motivation zum Leben bringt. Ich habe mir ihren idealen Körper vorgestellt.“
Möglichst unsichtbar sein hieß das Überlebensprinzip des körperlich zähen Kopfarbeiters, der davon zehrte, sich in seiner Jugend als Schmied, Schäfer, Bauer und Boxer ausprobiert zu haben. „Man wird wie eine Maus, die überall ein Loch sucht, um zu entwischen. Der Mensch wird ganz zu den Fühlern der Schnecke, nimmt sich zurück und tastet immer wieder die ganz unmittelbare Umgebung ab.“ Bastian wußte, daß Wut und Empörung nur dann nützlich wären, wenn man sich töten wollte. Fluchen war besser. „Scheiße“ lautete das häufigste Wort im KZ. Für Bastian war die „ganze Hitlerei ein einziger großer Kuhfladen“.
Bastian versuchte dem braunen Fleck, der alles zudeckt, stinkt und batscht“, auszuweichen. Aber der Häftling Nr.1 ging auch Risiken ein. Als Geräteverwalter konnte er Aufseherräume betreten und sich in der Kommandantenbadewanne laben. Mit den Unterdrückern gab es sogar Gespräche: Bastian diskutierte offen mit dem SS-Mann Carl-Friedrich Wicklmayr über die Thesen des jüdischen Philosophen Spinoza („Der Menschenwille ist unfrei“).
Mit Wicklmayr war Bastian in die Schule gegangen, und selbst nach dem NS-Terror kam es zu einem geistig-seelischen Wackelkontakt. Die Frau des SS-Schergen, eine tiefreligiöse Katholikin, bat nach dem Krieg Bastian, mittlerweile Anwalt, ihren Mann zu verteidigen. Der Humanist fühlte sich an seine Grundsätze erinnert: „Lebendig sein heißt sich ändern können“. Der Sieger der Geschichte war zudem gerührt vom Glauben der Frau „an ihren reingerutschten Mann, der Teil dieser krummen, verdrehten Verwesungswelt geworden war“. Der gleiche Advokat, der später mehr als 2.000 Wiedergutmachungsverfahren für Juden betrieb, verteidigte also seinen Peiniger. Der dankte ihm für diese „hohe Tat“ und war immerhin geständig: „Ich hätte das nicht tun sollen, es ist unentschuldbar, nie wiedergutzumachen.“ Natürlich berief sich der reuige Wicklmayr auf die deutscheste aller Ausreden, den Befehlsnotstand: „Der Kommandant hat gesagt, ich soll, also muß ich und kann gar nicht anders.“
Sechs Jahre Zuchthaus lautete das Urteil für den Mörder, der mindestens fünf von 31.591 toten Dachauer KZ-Häftlingen auf dem Gewissen hatte: Er hatte ihnen die Pulsadern geöffnet, sie erdrosselt oder erschossen. An Bastian legte kein SS-Mann Hand an. Im September 1933 war er „nach einem unendlich langen“ halben Jahr so willkürlich frei, wie er verhaftet wurde. Zur Entlassung mußte Bastian unterschreiben, daß er über die Vorgänge im Lager schweigt. Zudem wurde er für lebenslang unfähig erklärt, ein öffentliches Amt auszuüben: Das Karriere- Aus als Jurist drohte. Durch Beziehungen schaffte es der Lebenskünstler aber, einen Termin beim bayerischen Justizminister Hans Frank zu bekommen, der ihn prompt wieder als Referendar zuließ. Bastian nahm dafür nicht nur diese Demütigung in Kauf: Bei einem Referendarlager in der Lüneburger Heide tanzte er dem obersten NS-Blutrichter Roland Freisler einen Schuhplattler vor: „Da gefriert jede Bewegung.“ – Bastians Geschmeidigkeit führte dazu, daß er bei der Industrie- und Handelskammer eine Stelle bekam. Ein unangenehmer Job, weil der Regimegegner mit der Faust in der Tasche dort Gutachter für Arisierungen bearbeiten mußte, die er nach 1945 als Anwalt jüdischer Geschäftsleute wieder rückgängig machen sollte. Hier schloß sich wieder ein Kreis.
Bastian war ein Pragmatiker mit Anpassungsqualitäten und guten Nerven. 1936 kehrte er sogar für zwei Jahre nach Dachau zurück, um sich mit seiner Familie in der Idylle der dortigen Künstlerkolonie anzusiedeln. „Ein nettes Jugendstilhäusl mit Garten und niedriger Miete, dessen besoffener Vermieter oft auf Hitler schimpfte“ lockte den Ex-Häftling. Die mögliche Emigration nach Genf verwarf Claus Bastian der Liebe zuliebe – seine Frau konnte und wollte nicht mit.
Die Quittung für sein Bleiben und sein „Wuseln durch diese Unwelt“ bekam der Pazifist am 1. September 1939. Als der erste Gestellungsbefehl „für Führer, Volk und Vaterland“ eintraf, wurde Bastian schnell zum trickreichen Drückeberger, der mit Speck und Schnaps, Kaffeebohnen und Gänseleber Ärzte bestach: Zuerst ließ er sich den gesunden Blinddarm herausnehmen. Der Simulant wollte lieber als „Vaterlandsverräter“ überleben, zumal ihm das Militär als die größte menschliche Idiotie“ erschien: „Die Welt der Uniformen mit der Unterordnung des einzelnen unter den Willen eines Führers war für mich ein großes absurdes Theater.“
Dem abzusehenden Gemetzel versuchte der Mann mit dem präzisen Zorn auf Ernst Jüngers Stahlgewitter-Romantik dadurch zu entkommen, daß er einen Tiroler Bergbauernhof am Wilden Kaiser bewirtschaftete. Mit dem Spruch „I bin a Bauer aus Going“ ging er in Deckung. Umsonst. Bastian mußte als Wurst-Wart in der Verpflegungsstelle Frankreich miterobern und auch den wahnwitzigen Rußlandfeldzug. Dem Kessel von Stalingrad entkam er mit der letzten JU 52 in Richtung Heimat. „Im KZ der erste, hier der letzte“, urteilte der Fatalist trocken.
Für Hitlers Pläne war der Kosmopolit „Sand, nicht Öl im Getriebe.“ Er kam durch den Krieg, ohne einen Schuß abzugeben. In einer Welt, „die völlig absurd ist, macht man selber die Absurditäten“, hieß sein Schwejksches Überlebensprinzip, das er mit einem Schuß Karl Valentin mixte. Er mimte den Schlappschwanz und Truppenclown, steckte sich Enzianblüten an den Stahlhelm, leitete den heiligen Eid auf Hitler mit der anderen Hand ab. In Sachen Selbstverstümmelung war er Spezialist: Der Querdenker verletzte sich beim Skifahren absichtlich die Augen, spritzte sich einen Kubikzentimeter Terpentin in den Arm und streute Salz auf die Wunde, damit sie offen blieb.
Nach dem Krieg machte Claus Bastian nie viel Aufhebens um seine KZ-Biographie als Häftling Nr.1. Er wollte nicht, wie Charles Lindbergh oder Helmut Rahn, „immer auf das gleiche angesprochen werden“. Vom Horror des Dritten Reiches befreite er sich künstlerisch. Bis zu seinem Schlaganfall vor einem Jahr, der ihn sichtlich handicapte, malte der rüstige Rentner Passionszyklen: In seinen Kreuzwagen erscheint neben gesichtslosen Folterknechten die Physiognomie Hitlers. Als Jesus abgeführt wird, paradiert ein uniformierter Führer als Antichrist. Haßverzerrt, den Arm gestreckt.
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