■ Zur Regression der politischen Sprache
: „Solidarpakt“ als Opfermythos

Die Sprache der Politik scheint hierzulande immer mehr an Bewußtsein zu verlieren. Seit einigen Jahren erleben wir eine verstärkte Regression der politischen Sprache in der Bundesrepublik, die eine Regression des Handelns nach sich gezogen hat, wie sie in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellos war. Wenn die Sprache regrediert, dann regrediert notwendig auch die Politik, und es ist gut möglich, daß wir den Tiefpunkt dieser Regression nicht hinter, sondern noch vor uns haben.

Politik der Metaphern

Festmachen läßt sich der Bewußtseinsverlust an den Metaphern, die im politischen Diskurs benutzt werden oder, genauer: die nicht einmal mehr benutzt werden. Denn solange man eine Metapher benutzt, weiß man, was man tut. Das Kalkül hinter ihr bleibt erkennbar, und man kann sich von dieser Metapher wieder distanzieren. Was wir gegenwärtig beobachten, ist aber, daß der politischen Sprache die Metaphern außer Kontrolle geraten. Sie produzieren zunehmend selber Politik und dienen zugleich als unbewußte Legitimation dieser Politik. Eine solche Politik mit einem unakzeptabel und unnötig hohen Anteil an Unbewußtem ist dann ihrerseits in Gefahr, außer Kontrolle zu geraten. Das muß nicht heißen, daß sie Katastrophen erzeugt, aber es heißt auf jeden Fall, daß gegen eine solche Politik Opposition immer schwieriger wird. Auch dieses Verschwinden der Opposition ist gegenwärtig in der Bundesrepublik zu beobachten. Und so gesehen kam vor einiger Zeit Kohls Rede vom Staatsnotstand, also der Aufhebung von Opposition überhaupt, nicht aus purer Dummheit zustande, sondern sie lag schon in der Luft. Es sind die außer Kontrolle geratenen Metaphern gewesen, die diesen Begriff kurzzeitig, aber alarmierend im politischen Diskurs auftauchen ließen.

Wir haben gesehen, was das Bild vom „Strom“ oder der „Flut“ – „Asylantenflut“ – möglich gemacht hat: zunächst verharmloste Kapitalverbrechen und jetzt mit einiger Wahrscheinlichkeit die faktische Abschaffung des Asyls und hermetisch abgedichtete Grenzen. Wir haben gesehen, was das Bild von der organischen Einheit des „deutschen Volkes“ möglich gemacht hat: die Ausblendung politischer, ökonomischer, technischer, juristischer und organisatorischer Probleme, für die ganz verschiedene Lösungen denkbar gewesen wären.

Und was wir gegenwärtig erleben, ist ein weiteres Abdriften der politischen Debatte in ein kaum noch kontrollierbares Metapherngeflecht, das zunehmend deutlicher mythische Züge annimmt. Heute, da sich die Fehler und Versäumnisse der Vereinigungspolitik nicht mehr in der inszenierten Faszination eines nationalen Diskurses ausblenden lassen, erleben wir die Entstehung eines zweiten Diskurses, der eine weitere Stufe der Regression darstellt. 89/90 war der gesamte politische Raum plötzlich von einem Nebel namens „Deutschland“ und „Einheit“ erfüllt, der die eigentlich wichtigen Detailprobleme unsichtbar oder zweitrangig machte. Jetzt wird der politische Raum von einem ebensolchen Nebel namens „Solidarpakt“ und „Opfer“ erfüllt.

„Solidarpakt“ ist als Begriff der Politik ein einziger Unsinn. Keine differenzierte Gesellschaft, d.h. überhaupt keine Gesellschaft funktioniert auf der Basis von Solidarität. Sie funktioniert auf der Basis des Pakts, des Vertrages, d.h. gerade auf dem institutionalisierten Mißtrauen in Solidarität. Allenfalls könnte man sagen, auf der vernünftigerweise erzwungenen „Solidarität“, die aber so gar nicht mehr genannt werden kann. So gleicht die Sozialversicherung, das zentrale Scharnier moderner Gesellschaften, Lasten und Risiken aus, hat aber mit Solidarität nichts zu tun. Wo Solidarität wäre, wäre der Vertrag überflüssig, und wo der Vertrag ist, ist er genau deshalb, weil Solidarität nicht vorausgesetzt, ja nicht einmal gefordert werden kann.

Dieses Unding „Solidarpakt“, von dem bis heute niemand weiß – aber das sagt inzwischen keiner mehr –, was es denn sein soll, hängt aufs engste zusammen mit dem gerade vergangenen Diskurs der „Einheit“. Der „Solidarpakt“ ist das logische Folgesyndrom der „Einheit“. Er zehrt noch von etwas, das längst wie eine Seifenblase zerplatzt ist, ja er versucht, es zu restaurieren. Denn Solidarität wäre wirklich nur in eben der Einheit möglich, die es von Anfang an nicht gab und nicht geben konnte. Mit dem „Solidarpakt“ wird versucht, eine Einheit zugleich zu suggerieren und zu erzwingen, die sinnvoll nichts anderes sein kann, als die halbwegs gleichmäßige Verteilung von Wohlstand und politischer Beteiligung. Mythisch überhöht wird gerade diese Einheit blockiert. Der „Solidarpakt“ ist nichts als eine mythische Beschwörung von Einheit.

Opfer oder Verteilungsgerechtigkeit

Daß diese Metapher in den Bereich des Mythos gehört, wird sofort deutlich, wenn man bedenkt, welche zentrale Rolle in diesem Zusammenhang der Idee des Opfers zukommt, von dem plötzlich alle reden. Ein weiteres Indiz für den Bewußtseinsverlust der politischen Sprache.

Von „Beitrag“, wie gegenwärtig in der US-amerikanischen Diskussion, spricht kaum jemand. Ein Beitrag muß nicht freiwillig sein, er kann eingefordert werden, aber er ist von vornherein genau definiert und begründet. Ein Beitrag ist ein Akt politischer und ökonomischer Verantwortung. Ein Opfer dagegen ist ein Akt der Unterwerfung oder der Anrufung. Es ist geradezu das Gegenteil einer politischen Handlung, es ist ein mythischer, ja kultischer Akt. Das Opfer stellt Kontakt zu einer überirdischen Macht her, und – darin besitzt es eine eigenartige Dialektik – ihm wohnt eine automatische Kraft der Verwirklichung inne. Dank- oder Bittopfer, Weihe- oder Sühneopfer – man könnte spekulieren, welches Opfer 1993 in der Bundesrepublik verlangt wird. Jedenfalls kennt ein Opfer Steigerungsstufen – bis zum Selbstopfer. Unter der Forderung des Opfers kann alles verlangt werden. Beim Opfer gibt es kaum verschiedene Möglichkeiten, sondern nur eine Notwendigkeit. Und vor allem braucht das Opfer keinerlei rationale Begründung.

Der mythisch-kultische Kontext, in dem sich die Sprache der deutschen Politik gegenwärtig wiederfindet, ist sicher insoweit harmlos, als er nicht gleich die dunkelsten Gespenster mit sich führt. Er ist aber insoweit nicht harmlos, als er Opposition und rationale Auseinandersetzung über wirkliche Alternativen schon jetzt erheblich einschränkt, ja z.T. tabuisiert, wie wir es in der Diskussion um Form und Procedere der Vereinigung erlebt haben. Mythisierung vereinfacht Politik nicht nur, sie blockiert sie auch. Es geht nicht um einen nebulösen „Solidarpakt“ und erst recht nicht um ein kultisches Opfer für den Götzen Deutschland, sondern realer und komplizierter um ein Stück Verteilungsgerechtigkeit, die politisch durchzusetzen ist. Reiner Ansén

Philosoph und Publizist, lebt in Berlin