60.000 hungern in Srebrenica, Serben greifen an

■ Stippvisite des UN-Kommandeurs in Ostbosnien: Cerska von Bewohnern verlassen und in serbischer Hand/ Verhandlungen in New York unterbrochen

Sarajevo (AFP/taz) – Gerade einen halben Tag lang hatte Philippe Morillon, Kommandeur der UN-Truppen in Bosnien, sich Zeit genommen, um drei Städte und Gemeinden Ostbosniens zu besuchen – doch auch der Kurztrip in das Kriegsgebiet ermöglichte ihm überraschende Urteile: In Cerska habe es bei der Eroberung der Stadt durch serbische Truppen keine Greueltaten gegeben, in Konjevici sei die Lage nicht dramatisch. Mit der Reise in die belagerten ostbosnischen Städte wollte die UNO überprüfen, ob eine Evakuierung der Muslime möglich und notwendig sei.

Wegen Zeitmangels hatte Morillon in Cerska lediglich das Zentrum des Ortes inspiziert, in andere Teile der weitverzweigten Gemeinde sowie in umliegende Dörfer fuhr er nicht. Wie er bei seinen Gesprächen mit serbischen Militärs überprüfen konnte, daß es – wie von Amateurfunkern aus der Region gemeldet – kein Massaker gegeben habe, blieb nach seiner Rückkehr nach Sarajevo unklar. Unzweideutig stellte er jedoch fest: Alle Bewohner des mehrheitlich von Muslimen bewohnten Ortes seien geflohen, der Ort in der Hand der serbischen Soldaten.

Genauer sah sich Morillon in dem Flüchtlingsort Konjevici um. Er habe jedes Haus aufgesucht und dabei etwa 75 Verwundete gezählt. Die Lage sei schwierig, aber nicht dramatisch. Die Menschen litten unter Entbehrungen, jedoch nicht allzu sehr unter Hunger. Da die Bevölkerung inzwischen 18 Lebensmittelpakete der US-Luftwaffe gefunden habe, könne sie nach der elfmonatigen Blockade durch serbische Truppen nun erstmals Hoffnung schöpfen.

Als „dramatisch“ bezeichnete der General dagegen die Situation in Srebrenica, das am Sonntag zum Ziel einer neuen Offensive der serbischen Truppen wurde. Dort seien rund 60.000 Bosnier eingeschlossen, Menschen verhungerten, die Bevölkerung benötige dringend medizinische Versorgung, Mehl und Salz. Auch der WHO-Arzt Simon Mardel berichtete, daß es in der Stadt 2.000 Kranke und Verwundete gäbe, jeden Tag würden 20 bis 30 Menschen sterben. Hunderte seien an Infektionen wie Lungenentzündung erkrankt.

Nachdem am Wochenende Transportflugzeuge der US-Luftwaffe bereits zweimal Hilfsgüter über Srebrenica abgeworfen haben, soll die UNO nach Ansicht von Morillon ihre Anstrengungen nun auf diese Stadt konzentrieren. Die Entscheidung über eine Evakuierung, zu der nach UN-Angaben bereits 11.000 „Anträge“ vorlägen, solle der Bevölkerung überlassen werden. Um zumindest den Kranken und Verwundeten zu helfen, werden der bosnische und serbische Generalstabschef unter Vermittlung der UNO heute über einen Waffenstillstand für Ostbosnien verhandeln. Dabei knüpfen die Serben die Evakuierung an die Bedingung, daß sie in Tuzla eine mögliche Ausreise des serbischen Bevölkerungsteils sicherstellen können. Die dort verbleibenden Serben sind aber offenbar zumeist Anhänger der bosnischen Regierung.

In New York wurden in der Nacht zum Sonntag die Verhandlungen über eine Friedenslösung für Bosnien ergebnislos vertagt. Die Präsidenten Alija Izetbegović und Serbenführer Radovan Karadžić reisten zu Konsultationen nach Hause ab. Die Gespräche sollen in einer Woche fortgesetzt werden. Karadžić drohte mit dem endgültigen Abbruch der Gespräche, falls US-Präsident Clinton wie angekündigt die Sanktionen gegen Serbien verschärfe. Clinton wirbt für einen totalen Stopp der Lieferung von Gütern auf dem Landweg und des Geldtransfers nach Serbien. her