Eine Million Filipinos können sich nicht irren Von Mathias Bröckers

Rund eine Million Menschen haben sich am vergangenen Samstag in der nordphilippinischen Stadt Agoo versammelt und das Erscheinen der Jungfrau Maria erwartet. Auslöser des Massenansturms waren Berichte über die Madonnenabbildung einer Familie, die Tränen vergossen haben soll – der 12jährige Sohn der Familie hatte erklärt, daß ihm die heilige Maria seit 1989 an jedem ersten Sonntag im Monat erschienen sei. Gegen 13.15 Uhr Ortszeit riefen mehrere Pilger, sie hätten die Silhouette einer Frau mit einem dunklen Hüftbund gesehen. Danach sprach der Junge zu der Menge und kündigte die nächste Erscheinung für den 8. September an, danach werde „die gesegnete Mutter für immer verschwinden“.

Walter Evans-Wentz, der zu den großen Mythenforschern des Jahrhunderts zählt und die Traditionen in Tibet ebenso kennt wie die Schottlands, stieß beim Studium indianischer Überlieferungen einmal mehr auf jene merkwürdige Art Wesen, die ihm als Feen, Engel oder Devas in allen Kulturen begegnet waren. Shining Beings (Leuchtende Wesen) wurden sie von den Indianern genannt, und sie erschienen an besonderen Plätzen oder auf heiligen Bergen. Könnte es sein, fragte Evans-Wentz, daß jedes Land über bestimmte Energieplätze verfügt, an denen psychische und tellurische Kräfte zur Erscheinung dieser Wesen beitragen? Als Beispiel führt er die Parallelen zwischen der indianischen Religion und der Glaubensgemeinschaft der Mormonen an, die der weiße Siedler Joseph Smith 1823 nach einer Visionserfahrung gründete. Die beiden leuchtenden Wesen, die ihm als 14jährigem Jungen erstmals erschienen und die er für Gott und Jesus hielt, waren, so Evans-Wentz, niemand anderes als die Shining Beings der alten Indianer. So kam es, daß sich in der Offenbarung des „Book of Mormon“ deutliche Referenzen an die Schöpfungsgeschichte des roten Mannes wiederfanden – kein israelischer Geist, sondern die lokale Schutzgottheit aus Utah hatte sich Joseph Smith offenbart.

Wenn Evans-Wentz' These stimmt, daß sich Mythen von Zivilisation zu Zivilsation entwickeln und die alten Götter unter neuen Namen weiterexistieren, wäre den Pilgern in der Stadt Agoo nicht die vergleichsweise moderne Jungfrau Maria erschienen, sondern ein archaisches spirituelles Wesen der Region. Nun, der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß dort überhaupt nichts erschienen ist und diese Gläubigen einfach einer Massenhysterie aufgesessen sind. Aber können sich eine Million Filipinos derart irren? Mit dieser einfachen Lösung wären zwar alle Probleme wegerklärt, das Rätsel aber bliebe: Warum sind die Menschen in ihrer ganzen Geschichte mit diesen leuchtenden Wesen konfrontiert? Warum transportieren sämtliche Kulturen diese Begegnungen in ihren Mythen? Warum kommen heute in jedem zweiten Popsong „Engel“ vor, die es angeblich gar nicht gibt? Statt die Visionäre als verrückt abzustempeln, bedarf es einer vereinigten Theorie der Erscheinungen. Diese müßte dann erklären, warum katholischen Bauern immer noch die Heilige Jungfrau erscheint, während im technisierten Abendland eher UFOs auf der Visions-Tagesordnung stehen.