Gegen die Titel-Inflation

■ Ein neuer Umrechnungsmodus im Behindertensport macht es erstmals möglich, daß verschiedene Schadensklassen im gelichen Rennen gegeneinander antreten

Baiersbronn (taz) – Der Behindertensports steht möglicherweise vor umwälzenden Veränderungen. Ein erster Versuch, die Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit der Leistungen herzustellen, wurde im Rahmen der zweiten Europameisterschaften der Behinderten in den nordischen Ski-Disziplinen unternommen, die vergangene Woche in Baiersbronn im Schwarzwald stattfanden. Erstmals traten in einem Rennen Läufer aus verschiedenen Schadensklassen gegeneinander an. Und auch wenn in diesem sogenannten Europacup-Rennen noch keine Medaillen verteilt wurden, so waren sich doch alle Beteiligten über das Gelingen des Experiments einig.

Wer bisher bei Behindertenwettkämpfen die Siegerehrungen beobachtete, mußte eine Inflation der Titel feststellen. In manchen Sportarten, in denen auch die Altersklassen bewertet werden, hat fast jeder Teilnehmer schon eine Medaille sicher. Nimmt man als Beispiel die Leichtathletik, so gibt es allein im Weitsprung etwa fünfzehn deutsche Meister.

Mit dieser Entwertung der Titel im Behindertensport beschäftigten sich die Trainer und Funktionäre schon lange. Die Nordischen haben bereits 1987 anläßlich eines Weltcup-Rennens eine Vereinheitlichung der Klassen vorgenommen. Damals wurden von jedem Land die besten Sportler eingeladen und alle gemeinsam bewertet. Und siehe da, unter den fünf Bestplazierten waren fünf verschiedene Behindertenklassen vertreten. Darunter waren Arm- und Beinamputierte ebenso wie Sehgeschädigte.

Um nun auch die Schwerstbehinderten wie zum Beispiel Blinde oder Läufer und Läuferinnen ohne Stöcke miteinzubeziehen, hat ein Sportstudent aus Freiburg alle internationalen Ergebnisse der letzten sechs Jahre erfaßt und ausgewertet. Aufgrund dieser Berechnungen wurde im Vorfeld der Europameisterschaften im Nordschwarzwald ein Modell entwickelt, in der die einzelnen Schadensklassen mit Prozentpunkten belegt werden. Ein vollblinder Läufer B1 liegt bei 75,9 Prozent im Vergleich zu einem Unterschenkelamputierten mit 94 Prozent. Dieses Modell wurde bereits bei den Paralympics in Albertville diskutiert. Bei der EM wurde es nun zum ersten Mal getestet und von allen der angetretenen 69 Aktiven für gut befunden. Obwohl nur Vierter war auch der sieggewohnte Frank Höfle vom gastgebenden SV Mitteltal/Obertal zufrieden: „Dieser Platz beim Europacup-Rennen ist mehr wert als ein Europameistertitel in meiner Schadensklasse.“

Der am schwersten behinderte Athlet startete als Erster, die anderen folgten in Zeitabständen, die anhand der Prozentwerte ihrer Schadensklassen errechnet werden. Also durchaus ähnlich der Gundersen-Methode, die zum Beispiel bei den nichtbehinderten Nordisch-Kombinierern angewendet wird. Daß die Berechnungen fair waren, zeigte das Ergebnis: Unter den ersten fünf, die innerhalb von nur 48 Sekunden ins Ziel kamen, fanden sich fünf verschiedene Behindertenklassen.

Trotzdem scheint dieses Modell noch nicht völlig ausgereift zu sein. Denn die, die nicht auf Skiern, sondern im Schlitten durch die Loipe hetzen, fuhren noch einen eigenen Sieger aus. Da stellte die Europacup-Siegerin der Schlittenfahrer, Ragnhild Myklebust aus Norwegen, berechtigt die Frage, warum die Schlittenfahrer nicht auch in die Gruppe der restlichen Behinderten miteingerechnet wurden. Ihrer Meinung nach wäre das durchaus möglich, die Leistungen vergleichbar. Doch auch sie war vom Erfolg des Versuchs überzeugt, der den Behindertensport für die Zuschauer interessanter und transparenter macht. Frank Fahrner