Wer hat die Macht in Rußland?

Boris Jelzin stellt vier Fragen für das nach wie vor für den 11. April geplante Verfassungsreferendum vor/ Volksdeputiertenkongreß soll über ein „Gesetz der Macht“ entscheiden  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

In einem neuen Vorstoß, die Machtfrage in Rußland zu klären, kündigte Präsident Jelzin am Wochenende im GUS-weiten Fernsehen an, er werde dem Volksdeputiertenkongreß ein Gesetz präsentieren, das die Machtverteilung zwischen der Legislative und der Regierung auf neue tragfähige Fundamente stelle. Letzte Woche hatte der Oberste Sowjet, das ständige Parlament Rußlands, den Volksdeputiertenkongreß als oberstes Verfassungsorgan zu einer außerordentlichen Sitzung für kommenden Mittwoch nach Moskau zusammengerufen. Laut Tagesordnung soll dabei über Jelzins Anliegen entscheiden werden, ob die Bürger des Landes in einem Referendum die neue politische Verfaßtheit Rußlands selbst bestimmen dürfen. Der in seiner Mehrheit konservative Kongeß hatte auf seiner letzten ordentlichen Sitzung im Dezember formell die Zustimmung zu einem Plebiszit schon gegeben.

Jelzins neue Gesetzesinitiative mag als Versuch gelten, auch ohne das Referendum einen Ausgleich bei der Machtaufteilung zu erwirken. Sechs Punkte umfaßt der Entwurf, deren genauer Inhalt bisher jedoch nicht bekannt ist. Im Grundtenor soll er allerdings nicht weit von jenem Vorschlag abweichen, den der Oberste Sowjet, am vergangenen Freitag erst zurückwiesen hatte.

Die Legislative, die sich in den letzten Monaten unter ihrem Vorsitzenden Ruslan Chasbulatow, zu einer „zweiten Exekutive“ aufwertete, lehnte Jelzins Kompromißangebot, das unter anderem die Überführung der Aufsicht über die Zentralbank in Regierungshände vorsah, brüsk ab: Es käme einem Ultimatum gleich und bedeutete die Entmachtung des Parlaments, verlautete aus Kreisen der Gesetzgeber.

Jelzin, der zunehmend mehr in Bedrängnis gerät, gibt sich öffentlich kompromißbereit: „Ich will keine Konfrontation mit der Legislative.“ Dennoch hält er durch vage Formulierungen Gerüchte und Vermutungen am Kochen, im Falle einer fortdauernden Opposition des Volksdeputiertenkongresses, könnte er zu anderen weitreichenderen Maßnahmen greifen: im Unterschied zum Kongreß kann sich Jelzin auf eine demokratisch legitimierte Wahl stützen. Der Kongreß entstammt noch der kommunistischen Ära, ähnlich wie die noch gültige Verfassung der UdSSR, auf die Jelzin 1991 als Präsident vereidigt worden ist. Seither hat sie über 320 Korrekturen erfahren. In seinem Poker mit dem Parlament versucht Jelzin, dieses Moment zu kapitalisieren: Widersprüche in der bestehenden Gesetzgebung hielten ihm auch andere Optionen offen. Dies ist eine indirekte Drohung an den Kongreß, ihn im Zweifelsfalle aufzulösen. Gleichzeitig sichert er sich in der verfassungsrechtlich unklaren Situation mit seinen Vorbehalten gegen den Vorwurf ab, die derzeit noch gültige Konstitution verletzt zu haben.

Bisher sind das Dohgebärden. Einen offenen Showdown mit dem Parlament will Jelzin möglichst verhindern, das zeigen seine mannigfaltigen Vermittlungsbemühungen. Immer wieder betont er die notwendige Einheit. Über die Zukunft Rußlands werden weder rechte noch linke Kräfte, sondern alle gemeinsam entscheiden.

Parlamentspräsident Chasbulatow goß dagegen Öl ins Feuer und erklärte, Jelzin sei sogar zu Anschlägen gegen bekannte Reformpolitiker bereit, um die Konservativen zu diskreditieren.

Der Ausgang des Machtkampfes ist völlig ungewiß. Sergej Schachraj, Jurist und enger Berater Jelzins, äußerte in der vergangenen Woche die Einschätzung, daß der Kongreß ein Dekret des Präsidenten zu seiner Auflösung voraussichtlich genauso ignorieren werde wie Jelzin eine Absetzung durch die Abgeordneten. Überdies gingen die Verfassungsverstöße sowohl auf seiten der Exekutive als auch auf seiten der Legislative in die Hunderte, so Schachraj.

Mittlerweile wurden auch die Fragen des anvisierten Referendums bekanntgegeben, die der Volksdeputiertenkongreß in der vorliegenden Form aber wohl kaum passieren lassen dürfte. Demnach sollen die Bürger der Russischen Föderation darauf antworten, ob sie als Regierungsform eine Präsidentialdemokratie befürworten oder nicht. Die zweite Frage lautet: „Sind Sie damit einverstanden, daß die höchste gesetzgebende Kraft ein Zweikammernparlament innehat?“ Der nächste Punkt betrifft die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung: „Sind Sie damit einverstanden, daß die neue Verfassung der Russischen Föderation (RS) von einer verfassungsgebenden Versammlung angenommen werden soll, die der multinationalen Zusammensetzung der RS entspricht.

Die letzte Frage schließlich, soll klären, ob die Bürger dem Besitz und der freien Verfügung über Grund und Boden zustimmen. Bisher hat sich das Parlament mit Händen und Füßen gesträubt, Grund und Boden ohne Restriktionen zu privatisieren.

Alle Einzelaspekte des Referendums sind eindeutig gegen die bestehende Legislative gewendet. Eine Alternative zum Präsidialsystem wird gar nicht erst erwogen. Ein Zweikammernparlament bedeutete ein Ende des Volksdeputietenkongreß, der ohnehin nur ein Wurmfortsatz des alten Regimes darstellt. Die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung würde den Kongreß, dessen Legislaturperiode noch bis 95 reicht, jeder Mitsprache berauben.