Bonjour tristesse, werte Genossen!

■ Nach der Wahl in Hessen ist Kohl wieder obenauf/ Die SPD versteht die Welt nicht mehr

Bonn (taz/AFP) – Nach den schweren Verlusten der SPD bei den hessischen Kommunalwahlen – die Partei sackte um 8,4 Prozent auf 36,4 Prozent – versuchten ihre Protagonisten gestern, die Ursachen des Debakels zu ergründen. Mit mehr Disziplin, Teamgeist und einem „sehr viel schärferen Profil“, so der Parteivorsitzende Björn Engholm gestern in Bonn, wolle die Partei auf die Walhlniederlage antworten. Als „außergewöhnlich bitter“ bezeichnete der Parteichef das hessische Ergebnis – und sah selbst auch so aus. Dabei hatten seine Kollegen aus dem Führungspersonal alle brav zu ihm gestanden. Ob die Partei einen neuen Chef und Kanzlerkandidaten brauche, verneinten die Präsidenten jedenfalls gestern einhellig.

Auf der Suche nach den Gründen für die „schwere Schlappe“ nannte Engholm in der ihm eigenen Präzision eine „tiefe Resignation gegen alle, die regieren, gegen Mehrheiten in Bonn, aber auch in Hessen“. Vor allem die Enttäuschung über die gebrochenen Einheitsversprechen hätten zu tiefer Verbitterung und Verunsicherungen geführt, welche die Wahlen zu einem „Warnsignal an beide Volksparteien“ hätten werden lassen.

Fast unisono kam aus allen Lagern der SPD der Ruf, die Partei müsse wieder deutlicher als Anwalt der kleinen Leute erkennbar werden. „Unsere Position zum Solidarpakt ist bitterernst zu nehmen“, warnte Hans Eichel in Richtung Bundesregierung. Über die Führung der SPD wurde offenbar auch im Präsidium hart diskutiert, gleich als zweite Konsequenz des Wahlergebnisses verlangte Engholm, daß „aus dem vielstimmigen Chor ein gutgestimmtes Orchester“ werden müsse. Die Vorsitzende des Landesverbandes Hessen-Süd, Heide Wieczorek-Zeul, meinte etwas weniger verblümt, es müsse aufhören, daß sich einzelne, „vor allem männliche“ aus der Führung als „Vereinigung unabhängiger Sprecher“ aufführten.

Die JungsozialistInnen machten gestern die „harmlose und unprofilierte Oppositionspolitik“ für die Wahlniederlage verantwortlich. Der Juso-Bundesvorsitzende Ralf Ludwig erklärte in Bonn, „eine dahinsiechende Bundesregierung und eine ideenlose Opposition“ seien für die Bundesbürger nicht mehr unterscheidbar.

Ein blendend aufgelegter Bundeskanzler freute sich hingegen, daß die Wahl für die CDU immerhin „so lala“ ausgegangen sei. Über seinen „unmittelbaren Sturz“ könne nun keiner mehr schreiben, meinte Helmut Kohl. Er räumte ein, daß die Union in Bonn in letzter Zeit ein „miserables Bild abgegeben“ habe. Persönliche Verantwortung wollte der Kanzler und CDU-Vorsitzende aber nicht erkennen. „Natürlich ist es so, daß mir alles mögliche in die Schuhe geschoben wird“, meinte er. Dennoch gebe es bislang keinen „dramatischen Andrang“ auf das Amt des Bundeskanzlers.

Mit einer scharfen Attacke revanchierte Kohl sich bei FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff für dessen Kritik am „Kuddelmuddel“ in der Bonner Koalition. Wenn von Blessuren geredet werde, müsse an die Querelen um die Nachfolge von Hans- Dietrich Genscher im letzten April erinnert werden. „Selten“, so Kohl, habe er einen Parteivorsitzenden erlebt, „der mit so wenig Geschick eine solche Frage angegangen ist“. Kohl verschonte die SPD sichtlich mit Kritik und beteuerte den „klaren Willen“ der CDU, bei den Bund- Länder-Gesprächen über den Solidarpakt am Wochenende „ein entscheidendes Stück voranzukommen“.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, warnte vor einer Überschätzung der Wahl. Zwar sei jedes Prozent für die Rechtsparteien ein Prozent zuviel, doch hätten 90 Prozent demokratisch gewählt. Seiten 3, 10 und 11