Der Ritt über den Bodensee

■ Die Berlinerin Dorothee Fliess wurde 1942 gemeinsam mit 13 anderen jüdischen Bürgern von Abwehroffizieren aus dem Nazistaat gerettet / "Unternehmen Sieben"

Tiergarten. Am 29. September 1942 steigt eine ebenso freche wie leichtsinnige junge Frau im Anhalter Bahnhof in ein Coupé des Schnellzuges von Berlin nach Basel. Die 19jährige ist wie ihre sie begleitenden Eltern und elf weitere Fahrgäste seit den „Nürnberger Rassegesetzen“ verpflichtet, bei jedem Schritt in die Öffentlichkeit einen Judenstern zu tragen. Sie ist aber „begeisterte Berlinerin“ und deshalb nur wenig erfreut darüber, die Stadt zu verlassen, in der sie großgeworden ist und noch immer ein abwechslungsreiches Leben führt – Theaterbesuche und Paddeltouren auf dem Wannsee eingeschlossen. Ihrem Vater droht die junge Frau noch, sie werde in Berlin bleiben, falls der ihr im Zielland Schweiz nicht die ausgefallensten Wünsche erfülle. Dabei kann kaum mehr ein Jude dem Rassenwahn entkommen, seitdem SS- Chef Himmler im Oktober 1941 jede Ausreise verboten hat.

Dorothee Fliess, die junge Frau von damals, ist heute 71 Jahre alt und lebt in jener Stadt, in der damals die gefährliche Zugfahrt durch das „Dritte Reich“ endete, in Basel. Auf ihrem Schreibtisch steht das Foto eines Mannes, der damals in der Abteilung Ausland/ Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht arbeitete. Dem Einsatz dieses Mannes, er hieß Hans von Dohnanyi, verdanken die 14 Flüchtlinge ihr Leben. Dorothee Fliess hat den Juristen niemals getroffen, wie sie vor wenigen Tagen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand erzählte. Anlaß war die Vorstellung eines Buches, das die Rettungsaktion von damals beschreibt. In dem nach dem von den Organisatoren gewählten Decknamen „Unternehmen Sieben“ betitelten Werk spürte der junge Historiker Winfried Meyer den Motiven der Helfer von damals nach. Hans von Dohnanyi wurde wie die meisten seiner Mitverschwörer aus dem Amt Ausland/Abwehr kurz vor Kriegsende im April 1945 von den Nationalsozialisten ermordet.

Noch frecher und sympathischer als heute muß die Tochter eines jüdischen Notars als 19jährige gewesen sein. Im Juni 1941, als sie zur Zwangsarbeit in der Treptower Firma Ehrich und Graetz verpflichtet wurde, führte sie noch das Leben einer verwöhnten Rechtsanwaltstochter. An die Vorschrift, einen Judenstern zu tragen, hielt sie sich nur selten, und auch von linientreuen BDM-Mitschülerinnen oder von Hitler-gläubigen Arbeitskolleginnen ließ sie sich nie einschüchtern und wehrte sich nach Kräften, wie sie sich erinnert: „Ich war eine Schlägerin.“ Den nichtjüdischen Kolleginnen in der Fabrik, die erheblich mehr verdienten, prophezeite sie gar, diese würden nach dem Ende des Krieges den Zwangsarbeitern eine Entschädigung zahlen müssen, die Nazis würden aufgehängt.

Die Meldung an den Vorarbeiter des Werkes blieb ohne böse Folgen für die 19jährige, die sich so weit vorgewagt hatte. Wie viele andere Menschen, mit denen Dorothee Fliess zu tun hatte, ließ er sich nicht zum Erfüllungsgehilfen der Rassendiktatur machen und nahm für dieses Verhalten auch seine eigene Gefährdung in Kauf.

Daß damals Menschen wie Hans von Dohnanyi ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um ihnen weder bekannte noch verwandte Bedrohte zu retten, daß sie dafür diesen Unbekannten vertrauen mußten, stellt Dorothee Fliess immer noch vor Fragen. Denn sie selbst habe mit ihrem oft leichtsinnigen Verhalten – auf dem Weg nach Basel spazierte sie in Frankfurt noch auf dem Bahnsteig herum – die Flucht ihrer Familie und damit die Organisatoren des Unternehmens gefährden können.

Im heutigen Rückblick, sagt die 71jährige, komme sie sich vor wie beim Ritt über den Bodensee. Der gelang auch nur, weil der Reiter Gefahren nicht sah. Als letztes Motiv ihrer Retter hat Dorothee Fliess „Widerwillen gegen die Nationalsozialisten“ ausgemacht. Für sie „das Höchste, was man von einem Menschen sagen kann“. Hans Monath

Winfried Meyer, „Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion“, Anton Hain Verlag, bis 30.6. 48 DM