Im Zuge allgemeiner Verpapstung

Bertolt Brecht: Das Jahrbuch 1992 des Brecht-Zentrums Berlin gibt eine Standortbestimmung. „Der wahre Rhizomist“, einerseits. Doch auch im Golfkrieg aktuell anzuwenden.  ■ Von Hans-Christian von Herrmann

Das Schicksal seines Werkes sei an das Schicksal des Marxismus-Leninismus als Staatsdoktrin gebunden. Brecht selbst soll es gesagt haben, und die Anzeichen für die Richtigkeit dessen mehren sich. Im März letzten Jahres probte Jürgen Mantheys lockere Polemik in der Zeit eine Lesart, die diesseits der Vereinfachungen in Brechts Theater durch die „große Ordnung“ (Brecht) des Marxismus die Lebensangst entdeckt, die Brecht nie als literarische Produktivkraft zugelassen habe.

Versteht sich diese Einschätzung schon im Bereich der alten Bundesrepublik keineswegs von selbst, so erstaunt es um so mehr, denselben Gedanken in einer Publikation des Brecht-Zentrum Berlin zu finden, das seinen Sitz seit 1978 in der Chausseestraße 125 hat, Brechts letztem Berliner Wohnsitz: „Aus der Angst als Grundbefindlichkeit wächst bei Brecht die Rettung in die Spekulation. (...) Er setzt alles auf den Sieg des Sowjetkommunismus, und wenn der scheitert, glaubt er, ist auch sein Werk entwertet. Wir wissen, er hat aufs falsche Pferd gesetzt.“ Die Worte fallen in einem „Gespräch über Aktualität oder Nichtaktualität Brechts“, und sie sprechen aus, was wohl alle Gesprächsteilnehmer und Autoren des Bandes beschäftigt haben wird. Ihre Beiträge wollen Auswege aufweisen und geben somit Auskunft darüber, was zu Brecht noch zu sagen bleibt.

Die Absicht des von Inge Gellert herausgegebenen Jahrbuches, die Brechtforschung aus der philologischen Totenstarre herauszuführen und an Theoriebildungen anzuschließen, vor denen die Zentralkomitees vergangener Volksdemokratien die Leute glaubten schützen zu müssen, ist deutlich. Doch schon im Vorwort und Nachwort der Herausgeberin fällt auf, wie unsicher das neue Terrain noch betreten wird. „VERSUCHE“ im alten Sinne Brechts wolle man vorlegen, gleichzeitig aber nicht auf Brecht festgelegt werden. Dabei ginge es um ein „Kommunizieren, das nicht aufklärerisch sein will“. Mit systematischem Anspruch setzt hier der Aufsatz des Berliner Philosophen Jens Brockmeier ein („Diderot, Brecht und die Sprachspiele der Moderne“): „Nur schwer ist es heute vorstellbar, das Aufklärungs- und Fortschrittsprojekt, so wie es das 19. und dann das 20. Jahrhundert aufgenommen und weitergeführt haben, (...) bruch- und reflexionslos fortzuschreiben – den neuen Bedingungen angepaßt, gewissermaßen wieder einmal geläutert, wieder einmal gereinigt von allen störenden Erfahrungen, von Kontingenz und Komplexität, modernisiert – und die Antiquiertheit des Menschen noch einmal modernisierend.“ So deutlich sich an solchen Stellen der Wunsch artikuliert, Neuland in der Theoriebildung zu gewinnen, gelingt es doch nicht, künftige Forschungsgebiete abzustecken.

Statt dessen durchzieht ein Name die Texte des Buches wie ein Joker: Heiner Müller, mittlerweile als Hausautor des Berliner Ensembles von Brechts ehemaligen Schülern auch offiziell zu seinem Nachfolger ernannt. Die anhaltende Virulenz der Müllerschen Texte und Äußerungen ist erstaunlich. Seine Rückkehr zum Brecht des „Fatzer“-Fragments und damit zu Krieg und Terror als Geschichtsmächten entspricht einem Standpunkt „auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber“ („Hamletmaschine“, 1977). Von diesem Ort aus zu schreiben ist nicht leicht.

Hat der Osten somit in Heiner Müller eine Antwort auf die Frage nach Brechts Aktualität, hält man sich im Westen an Altbekanntes. Der texanische Germanist Marc Silberman las mit seinen Studenten während des Golfkriegs wieder einmal „Galilei“. „Die Problematisierung des Verhältnisses von Gesellschaft und Wissenschaft ließ sich sofort, und zwar äußerst fruchtbar, auf die aktuellen Probleme anwenden.“ Der Aufsatz des Amsterdamer Germanisten Alexander von Bormann über „Lakonische Lyrik nach Brecht“ beweist, wie fern uns heute gerade der späte Brecht der „Bukower Elegien“ ist.

Klaus Völker, der Westberliner Brecht-Biograph, trägt eine Kritik der „kalten Hurenmoral“ der „Dreigroschenoper“ und der Oper „Mahagonny“ vor. Wo man doch bislang glaubte, gerade sein antiromantischer Impuls gebe Brecht einen Platz in der Literatur dieses Jahrhunderts, räumt Völker diese Position ohne Umstände. „Liebe, Zuneigung, das Ereignis, daß Liebenden ihre Liebe ein Halt und der Mittelpunkt der Welt ist, dieser mögliche Ausgangspunkt kam für Brecht nun schon überhaupt nicht mehr in Frage. Liebe zeigte er reduziert auf Sexualität, und die Sexualität wurde als eine auf Konsum reduzierte dargestellt.“ Daneben liefert sein Aufsatz mit dem Titel „Induktive Liebe, extensive Mitarbeit“ jedoch interessante Details zur Zusammenarbeit von Brecht und seiner ersten Privatsekretärin und lebenslangen Betreuerin seiner Werkausgaben, Elisabeth Hauptmann.

Neue Wege betritt allein der Bochumer Dramaturg und Schriftsteller Stephan Bock. Unter dem Titel „Soundscape“ unternimmt er eine Archäologie der Klanglandschaft Augsburg. Die rauschenden Kanäle, die hämmernden Handwerker, die lockenden Huren der Hasengasse, unweit der Brechtschen Wohnung, hätten die „unvergleichliche Lautsphäre“ eines „weißen plebejischen Zentrum(s)“ geschaffen, aus dem der (Jazz-)Sänger Brecht hervorgegangen sei. Diesem überraschenden Einstieg läßt Bock jedoch, statt einer Darstellung der unterhaltungsmusikalischen Erfolge Brechts in den späten 20er Jahren, Behauptungen folgen, deren Plausibilität gering ist. („Brecht gleichsam der wahre Rhizomist.“) Die „Verpapstung von Brecht“, vor der an einer Stelle des Buches gewarnt wird, kennt somit auch ihre westdeutschen Varianten.

Dem Konzept des Jahrbuches ist es zu verdanken, daß mit den Texten der Schriftsteller Martin Pohl und Thomas Günther zwei Berichte aufgenommen wurden, die aus der Einsicht in die eigenen Polizei- und Gerichtsakten nach dem Ende der DDR entstanden sind und in denen Brecht nur am Rande oder gar nicht auftaucht. Pohl, ehemals Meisterschüler bei Brecht an der Akademie der Künste, wurde 1952 vorgeworfen, für den CIC, die amerikanische Spionageabwehr, gearbeitet zu haben. Er vermutet als wahren Grund der Verurteilung zu vier Jahren Haft seine Homosexualität. Brechts Gnadengesuch beim Ministerpräsidenten Grotewohl erreichte eine Entlassung Pohls nach 22 Monaten. Thomas Günther wurde 1970, gerade 18 Jahre alt, als Mitglied einer Pop-art-begeisterten Gruppe von Schülern der „Hetze und staatsfeindlichen Gruppenbildung“ angeklagt und zu 27 Monaten Haft verurteilt. „Der kurze Frühling einer Rebellion – und die unverdaute Strafe“ ist sein Text überschrieben.

Überblickt man die Beiträge des Bandes, scheint vor allem eines dringlich: „Brechts Methode, VERSUCHE zu unternehmen, viele Künste (Musik, Film, Lyrik, Dramatik und auch Theorie) gemeinsam experimentell arbeiten zu lassen“, müßte selbst zum Gegenstand der Überlegungen gemacht werden. Damit könnte man der Versuchung entgehen, sich unter ihrem Namen in die Indifferenz eines Pluralismus der Methoden und Medien zu flüchten. Nichts anderes bedeutet es auch, in diesem Zusammenhang die „Produktion“ zu feiern. Da es wohl auszuschließen ist, daß es noch einen bisher vergessenen Brecht zu entdecken gibt, bietet sich die Möglichkeit einer strikten Historisierung seines Werkes an. Sie hätte den Vorteil, weder über seine Radikalität noch über seine Grenzen schweigen zu müssen. Die Brechttage 1990, die „Medienästhetik“ und „Medienpolitik“ bei Brecht diskutierten, haben noch einmal versucht, mit Brecht Vorschläge zur Veränderung der öffentlichen Kommunikations- und Unterhaltungsmedien zu machen. Kommende Diskussionen sollten sich einmal der Frage widmen, inwieweit Brecht die technischen Entwicklungen seiner Zeit überhaupt wahrgenommen hat.

„Nach Brecht“ – Der Titel meint Abschied vom Lehrer Brecht sowohl wie Nachfolge. Die allerdings scheint auch seinen Anhängern immer schwerer zu fallen.

„Nach Brecht. Ein Almanach 1992“ vom Brecht-Zentrum Berlin, Hg. Inge Gellert, Argon Verlag Berlin 1992, 228 Seiten, 29,80 DM