■ Hoechst nach sechs Unfällen im Glaubwürdigkeitsloch
: Störfallalltag

Der Chemiekonzern Hoechst weiß nicht, was er so alles produziert. Das hat er mit anderen Chemiekonzernen gemein. Er weiß aber nicht einmal mehr, was er tun soll, wenn dabei etwas Unvorhergesehenes passiert. Was sich daraus entwickelt hat, ist ein Lehrstück über Geheimniskrämerei in einer einigermaßen offenen, modernen Industriegesellschaft. Mindestens sechsmal in den vergangenen zwei Wochen hat es bei Hoechst gekracht. Jedesmal wieder betont der Konzern, sein Pech sei kaum mehr glaubwürdig, aber so sei das Leben eben: das Gesetz der Serie und kaum glaubliches menschliches Versagen. Jedesmal spielt die Ökonomie der Chemiestörfälle, der Verzicht auf kostspielige fehlerverzeihende Systeme in der öffentlichen Darstellung keine Rolle. Wer gibt schon gerne zu, daß er an der Sicherheit gespart hat.

Aus der Innenperspektive eines Chemiekonzerns ist das Zaudern der Herren verständlich. Erstens will man in der eigenen Produktion Geld verdienen, der Zweck eines jeden Unternehmens im Kapitalismus. Zweitens sieht die eigene Unfallbilanz so schlecht auch wieder nicht aus, wenigstens im Vergleich zur Konkurrenz. Im Wiesbadener Arbeitsministerium bestätigt man durchaus, daß die Hoechst AG bei den werksinternen Unfällen zu den Besseren der Branche zählt. Diese Art von Politik hat das Unternehmen jetzt aber öffentlich derartig in die Sackgasse geführt, daß die politisch Verantwortlichen vom Branchenführer der deutschen Chemieindustrie heute fast alles an Zusagen bekommen könnten. In einem Chemieunternehmen dieser Größe passieren nun einmal ständig Unfälle. Diese Unfälle werden in der Regel von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, sind der Lokalzeitung keine Fünfzeilenmeldung wert. Hat es aber erst einmal groß und sichtbar gekracht, dann werden die gleichen Informationen vor einem ganz anderen Hintergrund bewertet und präsentiert.

Dann rächen sich Beschwichtigungspolitik und Geheimniskrämerei der Konzernoberen. Haben sie früher jeden Unfall kleingekocht, versperrt ihnen gerade diese Politik heute den Ausweg aus dem Glaubwürdigkeitsdesaster. Jeder auch noch so kleine verschwiegene Unfall stürzt die Firma weiter in den Abgrund. Jeder jetzt gemeldete Unfall verstärkt die Wahrnehmung, daß es sich bei der Chemie und insbesondere bei Hoechst um eine für die Menschheit ungesunde Branche/Firma handelt. Die Strafe für den Konzern ist verdient, die Gesellschaft kann entscheiden, wieviel gefährliche Technologie sie sich weiterhin zumuten will. Wo aber bleiben die Sicherheitsauflagen und Kontrollen außerhalb Hessens? Hermann-Josef Tenhagen