Eine Konkurrentin für Frau Brunner

Die Schweizer Sozialdemokraten schicken eine zweite Frau ins Rennen um den Sessel in der Regierung/ Heute zweite Abstimmung im Parlament/ Proteste gegen Männerregierung  ■ Von Dorothea Hahn

Berlin (taz) – Das Wahlvolk will sie, die sozialdemokratische Basis will sie, und eine quer durch die Parteien gehende Mehrheit der Parlamentarierinnen in der Berner Bundesversammlung will sie: Christiane Brunner soll Ministerin in dem siebenköpfigen Bundesrat der Schweiz werden. Das haben die Demonstrationen, Meinungsumfragen und Diskussionen der vergangenen Tage gezeigt. Dennoch ist die Wahl der 45jährigen Genfer Gewerkschafterin, Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin zum 100. Schweizer Regierungsmitglied völlig ungewiß. Denn ihre eigene Fraktion hat eine Konkurrentin für die heute geplante zweite Abstimmung ins Rennen geschickt. Mit der Kandidatur von Ruth Dreyfuss (51) könne eine Regierungskrise vermieden werden, glaubt die SP.

Vor exakt einer Woche hatten die drei bürgerlichen Parteien FDP, CVP und SVP, die gemeinsam mit den SozialdemokratInnen (SP) seit 1959 die Schweizer Regierung bilden, Brunner als Ministerin abgelehnt. Anstelle der offiziellen Kandidatin der SP wählten sie einen sozialdemokratischen Mann, Francis Matthey, der überhaupt nicht für das Amt aufgestellt worden war. Das Nein zu Brunner, die das zweite weibliche Regierungsmitglied in der Geschichte der Schweiz werden wollte und will, kam nicht völlig überraschend. In den Wochen zuvor hatte eine sexistische Schlammschlacht gegen Brunner das Terrain bereitet. Gerüchte über Männerbeziehungen, eine Abtreibung und angeblich kompromittierende Fotos sollten ihren Aufstieg bremsen. Nach Brunners Niederlage in der Bundesversammlung baten sich der gewählte Matthey und die SP die einwöchige Bedenkzeit aus, die heute zu Ende geht.

Sozialdemokratinnen erlebten das Ereignis als déjà vu. Ziemlich genau vor zehn Jahren hatte es die SP schon einmal gewagt, eine Frau für die Regierung vorzuschlagen. Bis dahin war es ungeschriebenes Gesetz der Koalition, daß jede Partei ihre Ministersessel nach Gutdünken (und einem Kantonsproporz) besetzen konnte. Solange alle Minister Männer waren, funktionierte die Zusammenarbeit. Zum Bruch kam es erst 1984 bei der ersten weiblichen Kandidatin, der Sozialdemokratin Lilian Uchtenhagen. An ihrer Stelle wurde ihr (nicht aufgestellter) Genosse Otto Stich Minister – was er bis heute geblieben ist.

Zehn Jahre danach ist es der SP nicht mehr möglich, vor der Männerkumpanei zu kuschen. Kaum war die Abstimmung am vergangenen Mittwoch gelaufen, kam es in dem Schneetreiben vor dem Bundeshaus zu einer Demonstration enttäuschter Frauen, deren politische Zugehörigkeit von konservativ bis autonom reichte. Mit Sprechchören und Farbeiern forderten sie eine Ministerin Brunner.

Seither rissen die Proteste nicht mehr ab. Beinahe täglich gastierte Brunner vor großen Demonstrationen in Schweizer Städten. Hunderte SP-Mitglieder drohten mit Parteiaustritten und einer Abwanderung zu den unabhängigen Frauenlisten. Der Forderung, die SP müsse auf Brunner bestehen oder sich aus der Regierung zurückziehen, schloß sich mit eindeutigen 90:0 Stimmen am Wochenende auch der Parteivorstand an.

Doch auch die bürgerlichen Parteien, in denen es zahlreiche Stimmen gegen eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung gibt, ließen nicht locker. Ihrem Druck hat sich die Parlamentsfraktion der SozialdemokratInnen gebeugt. Darüber, ob ihre Zweitkandidatin Dreyfuss einen besseren Stand bei den Bürgerlichen hat, schossen gestern in Bern heftige Spekulationen ins Kraut. Dreyfuss ist nicht nur Gewerkschafterin, Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin, sondern wäre die erste Person jüdischer Herkunft in einer Schweizer Regierung.