Die Kräfteverhältnisse im Volksdeputiertenkongreß

■ Wegen fehlender Ausdifferenzierung der Parteiprogramme entstehen ständig neue Fraktionen, Parteien und Bündnisse im obersten Verfassungsorgan Rußlands

Der Volksdeputiertenkongreß, das oberste Verfassungsorgan Rußlands, ist ein Überbleibsel aus den Zeiten der Sowjetunion. Im März 1990, nach einer leicht veränderten russischen Verfassung, wurden die 1.042 Delegierten zwar in geheimer Abstimmung gewählt. Da die Kandidaten jedoch weiterhin nicht von Parteien, sondern den Arbeitskollektiven aufgestellt wurden, war es den Parteisekretären der KPdSU in der Regel möglich, ihre Kandidaten nominieren zu lassen; 85 Prozent der Volkskongreß-Abgeordneten sind so ehemalige KP-Mitglieder.

Zugleich bildeten die Arbeitskollektiv-Delegierten aber auch keine „Parteifraktionen“ und wechselten immer wieder von einer politischen Gruppierung zur anderen. Die Folge: Die Kräfteverhältnisse verschieben sich – nicht zuletzt auch wegen fehlender Ausdifferenzierung der Parteiprogramme – ständig, und ständig entstehen neue Fraktionen, Parteien „Bewegungen“.

Die letzte, 7. Tagung des Volkskongresses fand im Dezember 1992 statt. Damals teilten sich die Delegierten in drei große Blöcke, rund 100 Abgeordnete gehörten keiner Fraktion an. Die größte politische Gruppierung bildete mit 355 Abgeordneten der „Block russische Einheit“, ein Zusammenschluß nationalistischer und kommunistischer Delegierter. Zu ihr gehörten nicht nur die Kolchos- und Sowchos-Direktoren der „Agrarunion“, sondern auch die „Bürgergesellschaft“. Die Gruppe früherer „Radikalreformer“ kämpft inzwischen nicht mehr gegen die KPdSU, sondern gegen Jelzin. Ihr Ziel ist die Wiedereinrichtung eines russischen Imperiums, wobei seine Form – ein zaristisches Großreich oder die Neubildung der UdSSR – ihnen weitgehend egal ist.

Das „Zentrum“, die Mitte des politischen Spektrums, stellt 351 Delegierte. Die wichtigste politische Gruppierung ist die Bürger- Union, ein Zusammenschluß der Industriebosse unter Arkadi Wolski. Der 60jährige Weißrusse wurde in den letzten Monaten wiederholt als Premierminister Rußlands gehandelt. Wolski zog es jedoch vor, über den jetzigen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin die Fäden im Kabinett zu ziehen. Ganz gelungen ist ihm dies jedoch bisher nicht: In der letzten Woche stellte sich die russische Regierung eindeutig hinter Boris Jelzin.

Ziel der Industrielobby ist der weitgehende Erhalt der großen Staatsunternehmen, eine Verlangsamung des Reformprozesses und eine Ausweitung der staatlichen Kredite.

Zum Zentrum zählt auch die „Volkspartei Freies Rußland“. Ihr Vorsitzender Alexander Ruzkoi ist einer der schärfsten und ambitioniertesten Reformgegner; der Stellvertreter Jelzins sieht sich bereits als Präsident Rußlands. In den vergangenen Wochen wurde sein Intrigenspiel jedoch von dem Ruslan Chasbulatows übertroffen. Der Parlamentspräsident, der nicht nur den Volksdeputiertenkongreß, sondern auch das sogenannte „Arbeitsparlament“, den vom Kongreß gewählten Obersten Sowjet, leitet, will die Abhaltung des Referendums verhindern; die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung – wie von Jelzin gewünscht – würde ein Ende seiner Macht bedeuten. Schon in der letzten Woche deutete sich jedoch an, daß die „Russische Einheit“ nicht zur vorbehaltlosen Unterstützung Chasbulatows bereit ist, die Gegnerschaft zu Jelzin als „Bindemittel“ der Opposition nicht mehr ausreicht.

Zur politischen Mitte zählen außerdem einige Sozialdemokraten sowie das „linke Zentrum“ des Militärhistorikers und Stalin-Biographen Dmitri Antonowitsch Wolkogonow. Der ehemalige stellvertretende Chef der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee berät Jelzin in Verteidigungsfragen. Von ihnen ist am ehesten zu erwarten, daß sie eine Pro-Jelzin-Haltung einnehmen.

Die „Parlamentarische Reformkoalition“ stellte beim 7. Volkskongreß 241 oder 22,6 Prozent der Delegierten, inzwischen dürfte die Fraktion jedoch etwas kleiner geworden sein. Sie setzt sich aus drei Gruppierungen zusammen: der inzwischen hilflos zersplitterten Bewegung „Demokratisches Rußland“, der früheren Machtbasis Jelzins; den „Radikaldemokraten“ unter dem „streitbaren Priester“ Gleb Jakunin und dem „Bürgerkonsens“. Die jetzt von Jelzin vorgelegten Referendumsfragen könnten aus ihrer Feder stammen, zugleich drohen sie jedoch dem Präsidenten: sollte er sich weiter an die Bürger-Union annähern, würden sie ihm ihre Unterstützung entziehen. Sabine Herre