„Bubu“ im Dickicht der UNO

Nach nur 14 Monaten Amtszeit ist der Glanz des neuen UNO-Generalsekretärs Butros Ghali verblaßt. Der Ägypter hat sich im wuchernden Gestrüpp immer neuer Reform- und Umstrukturierungsdebatten hoffnungslos verheddert  ■ Von Andreas Zumach

Eine Reform der Vereinten Nationen ist in den 45 Jahren ihres Bestehens immer wieder gefordert worden. Doch die festgefahrenen Verhältnisse der globalen Ost- West-Konfrontation ließen lange keine ernsthafte Diskussion darüber zu. Innerhalb der UNO kam die Reformdiskussion erst mit dem Amtsantritt von Generalsekretär Butros Butros Ghali im Januar 1992 richtig in Gang. Sie ist bis heute – zu Recht oder Unrecht – stark mit seiner Person verknüpft.

Unter der Überschrift „Reform der UNO“ werden im wesentlichen vier Bereiche diskutiert:

– die „Demokratisierung“ des Sicherheitsrats und anderer wichtiger UNO-Strukturen;

– die Verbesserung der finanziellen Lage der UNO und damit ihrer Handlungsfähigkeit gerade auch in Krisenzeiten durch eine Erhöhung der zur Verfügung stehenden Mittel, deren effektivere Verwendung sowie die Verbesserung der Zahlungsmoral der Mitgliedsstaaten;

– eine „Entschlackung“ und Entbürokratisierung;

– die Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten bei der Friedensbewahrung und Friedenserzwingung.

Lediglich zum letzten Bereich existieren mit der von Ghali im Mai letzten Jahres vorgelegten „Agenda für den Frieden“ auch konkrete, öffentlich diskutierbare Reformpläne.

Ständige UNO-Eingreiftruppe?

In dem Dokument verlangt Ghali, die UNO-Generalversammlung solle den Sicherheitsrat und den Generalsekretär mit zusätzlichen Kompetenzen ausstatten – nämlich zur „präventiven Friedenssicherung“ und zur Überwachung und Durchsetzung von vereinbarten Waffenstillständen oder Friedensverträgen; ferner bei der Durchsetzung von humanitärer und Überlebenshilfe sowie zur Friedenserzwingung durch militärische Intervention. Dem Generalsekretär solle zwecks schnellerer Handlungsfähigkeit in Krisensituationen eine stehende Eingreiftruppe von rund 10.000 Soldaten unterstellt werden.

Auch ohne einen grundsätzlichen Reformbeschluß der UNO- Generalversammlung und eine entsprechende Änderung der UNO-Charta wurde ein Teil dieser Forderungen vom Sicherheitsrat bereits de facto umgesetzt, etwa mit der präventiven Entsendung von UNO-Soldaten nach Mazedonien.

So verschieden die Erwartungen an eine UNO-Reform sind – vor allem zwischen den Ländern des Südens und des Nordens –, so unterschiedlich fallen die Zwischenbilanzen 14 Monate nach dem Amtsantritt des neuen Generalsekretärs aus. „Für uns Afrikaner hat Butros Ghali in seinem ersten Amtsjahr wenig getan“, sagt ein schwarzafrikanischer UNO-Botschafter in New York.

Nach fünf Generalsekretären aus Europa, Asien und Lateinamerika hatte der ehemalige Außenminister Ägyptens bei seiner Wahl Ende November 1991 als „erster Vertreter Afrikas“ auf dem höchsten UNO-Posten hohe Erwartungen geweckt. Die 56 afrikanischen Staaten hatten sich nicht zuletzt eine stärkere Berücksichtigung ihrer Diplomaten für UNO-Posten auf höherer Ebene versprochen.

Doch von den Fähigkeiten der Afrikaner hält „Bubu“ – wie der Generalsekretär inzwischen in New York und Genf von vielen UNO-MitarbeiterInnen genannt wird – „nicht viel“. So heißt es zumindest in der engsten Umgebung des UNO-Chefs. Die 18 der ehemals 28 Untergeneralsekretäre, die Ghali im Zuge seiner „Reform des bürokratischen Apparats“ bis Ende 1992 entließ, stammen fast alle aus Ländern des Südens. Und für die wenigen neu zu besetzenden oder von ihm geschaffenen Posten wählte der Generalsekretär bislang vornehmlich Bürger nördlicher Industriestaaten.

In das neugeschaffene Amt des Koordinators für humanitäre Angelegenheiten (die fast ausschließlich Drittweltstaaten betreffen) setzte Ghali den Schweden Jan Elliasson. Als Direktor des Genfer UNO-Hauptquartiers fungiert nach dem Franzosen Antoine Blankart seit dem 1. März der ehemalige sowjetische Vizeaußenminister unter Schewardnadse, Wladimir Petrowski. Zum für die Verwaltung und damit für das UNO- Budget zuständigen Untergeneralsekretär berief Ghali 1992 auf Empfehlung des US-Präsidenten George Bush den ehemaligen US- Finanzminister Richard Thornburgh. Der wurde kürzlich entlassen, nachdem er Butros Ghali scharf kritisierte und der UNO vorwarf, „völlig ohnmächtig“ im Kampf gegen Betrug, Schlamperei und Amtsmißbrauch zu sein. Sein Nachfolger ab dem 5. April soll Melissa Wells werden, die derzeitige US-Botschafterin in Zaire.

Doch die zunehmende Unzufriedenheit vieler VertreterInnen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas hat tiefere Ursachen als nur die Enttäuschung über nicht erhaltene Posten. Mit dem Stichwort „Reform der UNO“, unter dem Ghali vor 14 Monaten antrat, verbanden viele von ihnen die Hoffnung auf eine grundlegende Strukturveränderung, die auch das Gewicht der Länder des Südens in der Weltorganisation wieder stärken würde. Denn ihr Einfluß ist in den 80er Jahren stetig zurückgegangen. So sind zum Beispiel die einstigen Kompetenzen der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) im Laufe der Jahre mehr und mehr in das Gatt, die Weltbank oder die G-7- Gruppe verlagert worden.

Statt Vorschläge zur Korrektur dieser Entwicklung zu machen, so die Kritik des Südens, befördere der Generalsekretär sie sogar, in dem er ökonomischen Fragen nur einen geringen Stellenwert beimesse und damit befaßte Strukturen abbaue. Zum Beispiel mit der Auflösung der Kommission zur Beobachtung der Aktivitäten multinationaler Konzerne in Entwicklungsländern, die Ghali „selbstherrlich von oben und ohne vorherige Diskussion einfach verfügte“, wie der Vertreter einer in New York ansässigen Nichtregierungsorganisation moniert.

Der Norden ist mit dem Generalsekretär zufrieden

Die Industriestaaten des Nordens bewerten die Arbeit Ghalis zumeist anders. Überwiegend Lobesworte über den „geschickten Diplomaten Ghali“ sind etwa in der Botschaft einer westeuropäischen Mittelmacht zu hören. Hier sind die Diplomaten „erstaunt“, wie schnell es dem neuen Generalsekretär gelungen sei, „Bewegung in die UNO zu bringen“.

Insbesondere die „Agenda für den Frieden“ sei sehr viel konkreter ausgefallen, als sich das so mancher seiner Auftraggeber im Sicherheitsrat wohl gewünscht habe. Zu den bisherigen Rückschlägen des Generalsekretärs – etwa der Ablehnung einer ständigen, dem UNO-Generalsekretär unterstellten Friedenstruppe durch die USA, Frankreich und Großbritannien – heißt es, Butros Ghali habe „einen langen Atem“. Er wisse, daß er „nicht jede Schlacht gewinnen muß, um sich letztendlich durchzusetzen“.

Die im Glaspalast am East River geführten Diskussionen zum Thema Erweiterung des Sicherheitsrates erwecken den Eindruck eines Billardspiels. Kaum jemand begründet den Wunsch seines Landes auf einen Sitz im höchsten UNO-Gremium unter offener Benennung der eigenen Interessen. Überall werden Vorstöße anderer als Auslöser für eigene Ansprüche vorgeschoben. Als Bundesaußenminister Klaus Kinkel vor der Generalversammlung Ende 1992 – gegen den Rat seiner Mitarbeiter – die bis dahin geübte öffentliche Zurückhaltung Bonns aufgab und das Interesse der Bundesregierung nach einem Platz im Sicherheitsrat offen erklärte, löste er vielfach Erstaunen, ja Befremden aus. Der Auslöser für Kinkels Schritt, den ein französischer Diplomat noch heute für einen „grandiosen Fauxpas“ der deutschen Diplomatie hält: die Vertreter Tokios hatten in New York fleißig Klinken geputzt und um Unterstützung für den Einzug Japans in das höchste UNO-Gremium geworben. Da Deutschland ja kein Interesse habe, verbreiteten Tokios Diplomaten, wäre Japans Aufnahme ohne weitere Veränderungen für den Sicherheitsrat möglich.

Inzwischen geht das Billardspiel munter weiter. Frankreich und Großbritannien setzen sich bei den Ländern des Südens für eine auf Deutschland und Japan begrenzte Erweiterung des Sicherheitsrates ein – mit dem Kalkül, daß dieses Modell sowieso klar abgelehnt wird und damit auf absehbare Zeit erst einmal alles beim alten bleibt.

Konsens besteht in New York lediglich darüber, welche Variationen zur Erweiterung des Sicherheitsrates keine Chance haben. Neben einer auf Deutschland und Japan beschränkten Erweiterung scheidet auch das „EG-Modell“ aus, wonach Frankreich und Großbritannien ihre Plätze zugunsten eines EG-Sitzes räumen sollten, den die zwölf EG-Mitglieder dann rotierend wahrnehmen würden. Paris und London verweisen hier auf die UNO-Charta, die nur die Mitgliedschaft einzelner Nationalstaaten, nicht aber von Staatenbündnissen zuläßt. Und an die Änderung der UNO-Charta will niemand richtig ran.

Vorschläge für eine Erweiterung ohne Deutschland und Japan sind bisher in New York von keiner Seite zu hören. Am wahrscheinlichsten erscheint derzeit das Modell Deutschland, Japan plus drei Staaten des Südens. Zugleich wird jedoch eine Realisierung dieses Modells immer unrealistischer. Die lange gehegte Vorstellung, mit der Aufnahme Indiens, Brasiliens und Nigerias – jeweils Großmacht auf ihrem Kontinent – wären die Ansprüche des Südens zu befriedigen, ist eine Illusion. Inzwischen haben sich mit Ägypten, Indonesien und Mexiko drei weitere Bewerber hinzugesellt, und bis Juni dürften noch einige dazukommen. Nach einem auf Antrag Indiens gefaßten Beschluß der Generalversammlung sollen bis dahin alle 179 Mitgliedsstaaten Farbe bekennen und Ghali ihre Wünsche und Vorstellungen für eine Veränderung des Sicherheitsrates schriftlich vorlegen. Der Generalsekretär wiederum soll daraus ein Paket schnüren, dem eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung zustimmen kann.

Zu erwarten sind dann jahrelange Debatten. Auch deshalb, weil neben der Erweiterung des Sicherheitsrates zugleich der Status seiner Mitglieder geregelt werden muß. Auch hier herrscht Konsens bisher nur darüber, was nicht zu erwarten ist: daß die USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien und China ihre Privilegien der ständigen Mitgliedschaft und des Vetorechts ganz aufgeben. Da diese Privilegien niemals von der Generalversammlung zuerkannt wurden, können sie auch nicht per Beschluß abgeschafft werden. Als mögliches Übergangsmodell wird erwogen, daß zur Verhinderung eines Beschlusses im Sicherheitsrat künftig zwei der fünf ständigen Mitglieder ihr Veto einlegen müssen. Bereitschaft, zu irgendeinem Zeitpunkt die ständige Mitgliedschaft überhaupt aufzugeben, hat bisher keiner erkennen lassen.

Erwartet wird eine verschärfte Finanzkrise

Einen Kriterien-Katalog für die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat hat bisher niemand auf den Tisch gelegt. Eine klare Antwort geben lediglich die Finanzexperten mancher Botschaften: Sie würden die Zahlungsmoral zum Kriterium für Mitgliedschaft und Stimmrecht machen – nicht nur im Sicherheitsrat, sondern auch in der Generalversammlung und in anderen Gremien.

Würde diese Empfehlung befolgt, sähen die realen Machtverhältnisse innerhalb der UNO ganz anders aus als bisher. Denn die USA – mit 25 Prozent Anteil am regulären UNO-Budget zumindest theoretisch größter Beitragszahler – haben derzeit Rückstände von über 700 Millionen Dollar. Rußland (mit 9,4 Prozent auf Platz 3 nach Japan mit 12,5 Prozent) schuldet 420 Millionen. Die derzeitigen Mitgliedschafts- und Vetorechte der beiden Staaten wären suspendiert, würde die Reformempfehlung der Finanzexperten befolgt.

Die Rechte Deutschlands wären zumindest leicht eingeschränkt. Denn die Bundesregierung überweist die laut UNO- Haushaltsordnung bis Ende Januar fälligen Jahresbeiträge immer nur in zwei Halbjahrestranchen und ist damit jeweils zumindest zwischen Februar und Juli im Zahlungsrückstand. Doch damit liegt der viertgrößte Beitragszahler (8,9 Prozent) immer noch weit besser als die große Mehrheit der UNO- Mitgliedsstaaten – darunter 22 Länder, die zum 1. Februar 1993 seit über zwei Jahren überhaupt keinen Cent Beitrag mehr gezahlt haben. Das Stimmrecht dieser Länder ist eigentlich schon laut der gültigen UNO-Satzung (Artikel 19) suspendiert. Doch diese Bestimmung wird in den meisten UNO-Gremien schlicht nicht durchgesetzt.

Daher ist mittelfristig mit einer Verschärfung der Finanzkrise zu rechnen. Schon in den letzten drei Jahren drohte mehrfach jeweils zum Quartals- oder Halbjahresende die Zahlungsunfähigkeit. Diese Krisen konnten bisher jeweils aufgefangen werden, indem – haushaltsrechtlich nicht ganz korrekt – Gelder aus dem Bugdet für die Friedensmissionen in den regulären UNO-Haushalt umgeleitet wurden.

Das war möglich, weil die Finanzausstattung für die Friedensmissionen anfangs größer war als der tatsächliche Bedarf. Inzwischen gilt jedoch das Gegenteil: die Kosten für die inzwischen weltweit 14 Friedensmissionen der UNO mit über 70.000 militärischem und zivilem Personal sind explodiert. Statt der für das Doppelhaushaltsjahr 92/93 veranschlagten 2,5 Milliarden US-Dollar werden nach vorsichtigen Schätzungen wahrscheinlich 3,5 Milliarden erforderlich sein. Schon allein aus diesem Grunde und nicht nur wegen der Ablehnung durch die USA, Frankreich und Großbritannien hat Ghalis Forderung nach Aufstellung einer ständigen, ihm unterstellten Blauhelmtruppe auf absehbare Zeit keine Chance.